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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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von Befehlen – dennoch hörte sie sie und spürte ihre unterschiedliche Dringlichkeit, und ihre Glieder zuckten unwillkürlich, weil sie reagieren wollte. Es war, als würden zahllose kleine Hände sie am Ärmel zupfen:
Bitte, tu was.

    Sie stand an der Reling, als Rotfelds Leiche am nächsten Morgen dem Meer übergeben wurde. Es war ein stürmischer Tag, die Wellen schäumten und türmten sich hoch auf. Als Rotfelds Leiche auf das Wasser traf, spritzte es kaum, und einen Augenblick später hatte das Schiff ihn hinter sich gelassen. Vielleicht, dachte der Golem, wäre es das Beste, wenn sie sich über Bord stürzen und Rotfeld folgen würde. Sie neigte sich vor und spähte ins Wasser, versuchte, seine Tiefe zu schätzen; doch eilig traten zwei Männer vor, und sie ließ sich von ihnen zurückziehen.
    Die kleine Schar der Zuschauer begann sich aufzulösen. Ein Mann in Schiffsuniform überreichte ihr einen kleinen Lederbeutel und erklärte, dass er alles enthalte, was Rotfeld zum Zeitpunkt seines Todes bei sich gehabt habe. Irgendwann hatte ihr ein mitfühlender Matrose eine Wolljacke um die Schultern gelegt, und sie steckte den Beutel in eine Tasche.
    Ein paar Passagiere aus dem Zwischendeck standen noch in ihrer Nähe und fragten sich, was sie tun sollten. Sollten sie sie unter Deck bringen oder allein lassen? Die ganze Nacht waren Gerüchte von Koje zu Koje geschwirrt. Ein Mann hatte darauf bestanden, dass sie den toten Mann ganz allein in das Zwischendeck getragen hatte. Dann war da die Frau, die leise sagte, sie habe gesehen, wie Rotfeld – er war ihr aufgefallen, weil er die Matrosen dafür rügte, dass sie mit einer schweren Kiste nicht sorgfältig umgingen – in Danzig allein an Bord des Schiffes gegangen sei. Sie dachten daran, wie sie wie ein wildes Tier die Hand des Doktors gepackt hatte. Sie war einfach
komisch
auf eine Weise, die sie sich nicht erklären konnten. Sie stand so still da, als wäre sie mit dem Deck verwurzelt, während alle anderen vor Kälte zitterten und sich den Bewegungen des Schiffs anpassten. Sie blinzelte kaum, auch wenn ihr die Gischt ins Gesicht wehte. Und niemand hatte sie eine einzige Träne vergießen sehen.
    Sie beschlossen, sie anzusprechen. Doch der Golem spürte ihre Ängste und ihren Argwohn, wandte sich von der Reling ab und ging an ihnen vorbei, ihr aufrechter Rücken eine deutliche Bitte, allein gelassen zu werden. Den Leuten schlug Grabeskälte entgegen, und ihr Entschluss kam ins Wanken; sie ließen sie in Ruhe.
    Der Golem ging zur Treppe auf dem Achterdeck. Sie stieg am Zwischendeck vorbei bis in die Tiefen des Frachtraums hinunter: der einzige Ort in ihrem kurzen Leben, an dem sie sich nicht bedroht gefühlt hatte. Sie fand die offene Kiste, legte sich hinein und zog den Deckel über sich zu. In der Dunkelheit lag sie da und bedachte die wenigen Fakten, deren sie sich sicher war. Sie war ein Golem, und ihr Meister war tot. Sie befand sich auf einem Schiff mitten auf dem Ozean. Wenn die anderen auf dem Schiff wüssten, was sie war, hätten sie Angst vor ihr. Sie musste sich verstecken.
    Von den Decks über ihr schwebten die dringlichsten Wünsche bis zu ihr hinunter. Im Zwischendeck hatte ein kleines Mädchen sein Spielzeugpferd verloren und schrie jetzt untröstlich danach. Ein Mann in der zweiten Klasse hatte seit drei Tagen keinen Alkohol mehr getrunken, weil er neu anfangen wollte; jetzt ging er in seiner winzigen Kabine auf und ab, zitterte, raufte sich die Haare, unfähig an etwas anderes zu denken als an ein Glas Weinbrand. Diese beiden und viele andere zerrten abwechselnd an ihr. Sie drängten sie, den Frachtraum zu verlassen und ihnen irgendwie zu helfen. Doch sie erinnerte sich an den Argwohn der Passagiere auf dem Vorderdeck und blieb in der Kiste.
    Dort lag sie den Rest des Tages und die ganze Nacht, horchte auf das Ächzen und Stöhnen der Kisten um sie herum. Sie fühlte sich nutzlos, zwecklos. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Und der einzige Hinweis auf das Ziel ihrer Reise war ein Wort, das Rotfeld gesagt hatte.
Amerika.
Das konnte alles bedeuten.

    Als das Schiff am nächsten Morgen zum Leben erwachte, war es wärmer geworden, und den Passagieren bot sich ein erfreulicher Anblick: Zwischen Ozean und Himmel zeichnete sich eine dünne graue Linie ab. Sie drängten aufs Deck und schauten nach Westen, wo die Linie dicker und länger wurde. Zumindest für den Augenblick waren alle ihre Wünsche erfüllt, alle ihre Ängste vergessen; und
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