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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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von einem Dutzend Männer haben. Sie wird Sie, ohne nachzudenken, beschützen und dabei anderen Schaden zufügen. Es hat noch nie einen Golem gegeben, der nicht irgendwann Amok gelaufen ist. Sie müssen bereit sein, sie zu vernichten.«

    Am Abend, bevor Rotfeld in See stach, war der Golem fertig. Er ging mit einer Bierkutsche, die mit einer großen hölzernen Kiste, einem schlichten braunen Kleid und einem Paar Frauenschuhe beladen war, ein letztes Mal zu Schaalman.
    Der alte Mann hatte offenbar lange nicht geschlafen. Seine Augen waren dunkle Höhlen, und er war blass, als hätte er lebenswichtige Energie verbraucht. Er zündete die Lampe über seinem Arbeitstisch an, und Rotfeld konnte den ersten richtigen Blick auf seine Zukünftige werfen.
    Sie war groß, nahezu so groß wie Rotfeld selbst, und wohlproportioniert: ein langer Torso, kleine, feste Brüste, eine schmale Taille. In der Hüfte war sie vielleicht ein bisschen breit, aber an ihr wirkte das richtig, sogar anziehend. Im dämmrigen Licht sah er kurz zu dem dunklen Schatten zwischen ihren Beinen, schaute jedoch sofort wieder weg, als würde er sich nicht dafür interessieren, weil er Schaalmans spöttischen Blick und das Pochen seines eigenen Bluts bemerkte.
    Ihr Gesicht war breit und herzförmig, die Augen standen weit auseinander. Sie waren geschlossen, deswegen konnte er ihre Farbe nicht sehen. Die Nase über den vollen Lippen war klein und an der Spitze nach unten gebogen. Das braune leicht gewellte Haar reichte ihr gerade bis zu den Schultern.
    Vorsichtig, ungläubig legte er ihr die Hand auf die kühle Schulter. »Es sieht aus wie Haut. Es
fühlt
sich an wie Haut.«
    »Es ist Lehm«, sagte der alte Mann.
    »Wie haben Sie das gemacht?«
    Der alte Mann lächelte und schwieg.
    »Und die Haare und die Augen? Die Fingernägel? Sind die auch aus Lehm?«
    »Nein, die sind echt.« Schaalman lächelte unschuldig, und Rotfeld dachte daran, wie er ihm die Tasche mit dem Geld gebracht und sich gefragt hatte, was für Dinge der alte Mann damit zu kaufen beabsichtigte. Er schauderte und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
    Sie zogen die Frau aus Lehm an und hoben ihren schweren Körper vorsichtig in die Holzkiste. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sie in die Kiste legten, und Rotfeld wartete, bis der alte Mann ihm den Rücken kehrte, bevor er es zärtlich zurechtstrich.
    Schaalman nahm einen kleinen Zettel und schrieb die zwei unerlässlichen Befehle darauf – einen, um sie zum Leben zu erwecken, und einen, um sie zu zerstören. Er faltete den Zettel zweimal und steckte ihn in einen Umschlag aus Öltuch. Dann schrieb er
Befehle für den Golem
auf den Umschlag und reichte ihn Rotfeld. Sein Kunde wollte den Golem unbedingt zum Leben erwecken, aber der alte Mann war dagegen. »Sie könnte eine Zeit lang desorientiert sein«, sagte er. »Und auf dem Schiff sind zu viele Leute. Wenn jemand merkt, was sie ist, werden sie euch beide über Bord werfen.« Widerwillig erklärte sich Rotfeld einverstanden zu warten, bis sie in Amerika wären. Sie nagelten den Deckel auf die Kiste.
    Der alte Mann goss aus einer staubigen Flasche je einen Fingerbreit Schnaps in zwei Gläser. »Auf den Golem«, sagte er und hob das Glas.
    »Auf den Golem«, wiederholte Rotfeld und trank den Schnaps. Es war ein triumphaler Augenblick, der für Rotfeld nur von hartnäckigen Bauchschmerzen beeinträchtigt wurde. Seine Gesundheit war schon immer labil gewesen, und der Stress der letzten Wochen hatte seine Verdauung durcheinandergebracht. Doch er ignorierte seinen Bauch und half dem alten Mann dabei, die Kiste auf den Karren zu hieven, und führte dann das Pferd nach Hause. Der alte Mann winkte Rotfeld nach, als würde er ein frisch verheiratetes Paar verabschieden. »Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit ihr!«, rief er, und sein Gelächter hallte zwischen den Bäumen wider.

    Das Schiff stach ohne Zwischenfälle in See. Zwei Nächte später lag Rotfeld in seiner schmalen Koje, der Umschlag aus Öltuch mit den
Befehlen für den Golem
steckte in seiner Tasche. Er kam sich vor wie ein Kind, das ein Geschenk bekommen hat und es nicht auspacken darf. Wenn er wenigstens hätte schlafen können, aber quälende Schmerzen in der rechten Bauchhälfte ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Und ihm war heiß. Die Kakophonie des Zwischendecks klang ihm in den Ohren: Hunderte unterschiedlicher Schnarcher, der schluchzende Schluckauf von Babys, ein gelegentliches Würgen, wenn das Schiff von Woge
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