Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
heißer – als würde der Mann es irgendwie erhitzen.
    Das
, dachte Arbeely,
ist schlechterdings unmöglich.
    »Sag mir, wo der Hexer ist«, forderte der Mann, »damit ich ihn umbringen kann.«
    Arbeely glotzte ihn an.
    »Er hat mich in menschlicher Gestalt eingeschlossen! Sag mir, wo er ist!«
    Im Kopf des Kupferschmieds begann es zu rattern. Er blickte auf das Löteisen und dachte an die seltsame Vorahnung, die er verspürt hatte, bevor er damit die Flasche berührte. Er erinnerte sich an die Geschichten seiner Großmutter, Geschichten von Flaschen und Öllampen, in denen Geister gefangen waren.
    Nein. Das war lächerlich. So etwas gab es nur in Märchen. Die einzige Alternative bestand darin, dass er verrückt geworden war.
    »Sir«, flüsterte er, »sind Sie ein Dschinn?«
    Der Mann kniff die Lippen zusammen und sah ihn argwöhnisch an. Aber er lachte Arbeely nicht aus oder nannte ihn verrückt.
    »Sie sind es«, sagte Arbeely. »Lieber Gott, Sie sind tatsächlich ein Dschinn.« Er schluckte und wand sich, um dem schwelenden Eisen zu entkommen. »Bitte. Ich kenne diesen Hexer nicht, wer immer er ist. Ja, ich bin nicht mal sicher, ob es heute überhaupt noch Zauberer gibt.« Er hielt inne. »Vielleicht waren Sie sehr lange in dieser Flasche.«
    Der Mann schien darüber nachzudenken. Langsam zog er das Eisen von Arbeelys Hals zurück. Er stand auf und drehte sich im Kreis, als würde er die Werkstatt zum ersten Mal sehen. Durch das hohe Fenster drang der Lärm der Straße herein, das Klappern von Pferdehufen und die Schreie der Zeitungsjungen. Auf dem Hudson tutete lange und tief ein Dampfer.
    »Wo bin ich?«, fragte der Mann.
    »Sie sind in meiner Werkstatt«, sagte Arbeely. »In New York City.« Er versuchte, ruhig zu sprechen. »In einem Land namens Amerika.«
    Der Mann ging zu Arbeelys Werkbank und nahm eines der langen dünnen Eisen des Kupferschmieds in die Hand. Und blickte dabei sowohl entsetzt als auch fasziniert drein.
    »Das ist real«, sagte der Mann. »Das ist alles real.«
    »Ja«, gab Arbeely zu. »Leider ja.«
    Der Mann legte das Eisen weg. Und biss die Zähne zusammen. Er schien sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.
    »Zeigen Sie es mir«, sagte er schließlich.

    Barfuß und nur mit einem alten Arbeitshemd von Arbeely und einer Latzhose bekleidet, stand der Dschinn am Geländer von Castle Garden an der Südspitze Manhattans und starrte auf die Bucht hinaus. Arbeely blieb in seiner Nähe, hatte jedoch Angst, sich direkt neben ihn zu stellen. Das Hemd und die Hose stammten aus einem Haufen alter Kleider in einer Ecke von Arbeelys Werkstatt. Die Hose wies Lötzinnflecken auf, und in die Hemdsärmel waren Löcher gebrannt. Arbeely hatte ihm zeigen müssen, wie man das Hemd zuknöpfte.
    Der Dschinn lehnte am Geländer, fasziniert von dem Anblick. Er war ein Geschöpf der Wüste. Nie zuvor in seinem Leben war er so viel Wasser so nahe gekommen. Es schwappte gegen die Steine unter seinen Füßen, mal höher, mal tiefer. Gedämpfte Farben trieben auf der Oberfläche, die sich ständig verändernden Wellen reflektierten das Sonnenlicht. Dennoch hatte er Mühe zu glauben, dass es keine geschickte Illusion war, die ihn verwirren sollte. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass sich die Stadt und das Wasser auflösen und stattdessen die vertrauten Steppen und Hochebenen der syrischen Wüste auftauchen würden, die fast zweihundert Jahre sein Zuhause gewesen war. Doch die Zeit verging, und der Hafen von New York blieb eigensinnig, was er war.
    Wie, so fragte er sich, war er hierhergekommen?
     
    Die syrische Wüste ist weder die grausamste noch die unfruchtbarste der arabischen Wüsten, dennoch ist sie ein unwirtlicher Ort für alle, die ihre Geheimnisse nicht kennen. Hier wurde der Dschinn zu einer Zeit geboren, die die Menschen später das siebte Jahrhundert nennen würden.
    Von den vielen Typen von Dschinn – sie sind eine höchst unterschiedliche Rasse mit vielen verschiedenen Ausprägungen und Fähigkeiten – war er einer der mächtigsten und intelligentesten. Seine wahre Form war so wesenlos wie ein Hauch Luft und unsichtbar für das menschliche Auge. In dieser Gestalt konnte er Winde rufen und darauf über die Wüste fliegen. Aber er konnte auch die Gestalt irgendeines Tieres und somit eine feste Form annehmen, als wäre er aus Knochen und Muskeln. Dann sah er mit den Augen des Tieres, fühlte mit seiner Haut – aber sein wahres Wesen war immer das eines Dschinns, und die Dschinn sind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher