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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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gestoßen. Tollkühn wie die Jugend überall auf der Welt, wollte er bis an seine Grenzen gehen und verwandelte sich in einen Schakal, watete bis zu den Oberschenkeln in den Teich und blieb dort so lange stehen, wie er es aushielt, während die Kälte durch seine Pfoten in seinen Körper aufstieg. Erst als seine Beine fast unter ihm nachgaben, sprang er wieder heraus. Nie zuvor und auch seitdem nie mehr war er dem Tod so nahe gekommen. Und der Teich war nur sehr klein gewesen.
    Er könnte mühelos über das Geländer ins Wasser springen. Eine Minute würde genügen, und er wäre ausgelöscht.
    Angewidert zwang er sich wegzusehen. Dampfer und Schlepper tuckerten vorbei, hinter ihnen breiteten sich die Wellen aus. Im Dämmerlicht war am Horizont eine wogende Küstenlinie zu sehen. Davor stand auf einer Insel eine riesige Frauenstatue aus grünlichem Metall. Ihre Größe war schwindelerregend. Wie viele Felsen mussten geschmolzen, wie viel Rohmaterial gesammelt worden sein, um sie zu erschaffen? Und warum brach sie nicht durch die dünne Scheibe Land und versank im Meer?
    Laut Arbeely war diese Bucht nur ein winziger Teil eines Ozeans, dessen Ausdehnung unermesslich war. Selbst in seiner natürlichen Form hätte er ihn niemals überqueren können – und jetzt konnte er diese natürliche Form nicht mehr annehmen. In der Hoffnung, eine Schwachstelle übersehen zu haben, hatte er die Eisenschelle um sein Handgelenk gründlich studiert – aber es gab keine. Sie war breit, aber dünn, umschloss sein Handgelenk und hatte an einer Stelle ein Scharnier. Die untergehende Sonne ließ das Scharnier mit dem Stift darin matt schimmern. Er konnte den Stift nicht lösen, so sehr er es auch versuchte.
    Er schloss die Augen und versuchte zum hundersten Mal, seine Gestalt zu ändern, kämpfte gegen den Zauber der Eisenschelle an. Doch es war, als hätte er diese Fähigkeit nie besessen. Und noch erstaunlicher war, dass er sich überhaupt nicht daran erinnerte, wie sie um sein Handgelenk gekommen war.
    Abgesehen von ihrer Langlebigkeit sind die Dschinn mit einem erstaunlichen, nahezu fotografischen Gedächtnis gesegnet, und dieser Dschinn war keine Ausnahme. Die Erinnerungen eines Menschen wären ihm nur als ein zweifelhaftes Flickwerk von Bildern erschienen. Aber die Tage – Wochen? Monate? – vor seiner Gefangennahme und das Ereignis selbst blieben hinter einem dichten Nebel verborgen.
    Er konnte sich noch deutlich daran erinnern, dass er in seinen Palast zurückgekehrt war, nachdem er zwei Tage lang einer besonders großen Karawane nach Osten gefolgt war. Es waren fast hundert Männer und dreihundert Kamele, und er horchte auf ihre Gespräche und lernte langsam, sie zu unterscheiden. Ein Kameltreiber, ein dünner alter Mann, sang gern leise vor sich hin. Die Lieder handelten von mutigen Beduinen auf schnellen Pferden und den tugendhaften Frauen, von denen sie geliebt wurden; die Stimme des Mannes klang traurig, auch wenn die Lieder es nicht waren. Zwei Wachen hatten sich über eine neue Moschee in der Stadt al-Scham unterhalten, die sie die Große Moschee nannten; offenbar war es ein ungeheures Bauwerk von atemberaubender Schönheit. Eine weitere junge Wache sollte bald heiraten, und alle anderen verspotteten ihn und meinten, er solle sich keine Sorgen machen, sie würden sich in der Hochzeitsnacht vor seinem Zelt verstecken und ihm zuflüstern, was er zu tun habe. Der junge Mann gab zurück, warum er sich ausgerechnet auf
ihren
Rat verlassen sollte, was Frauen anbelangte; woraufhin seine Peiniger phantastische Geschichten über ihre sexuellen Fähigkeiten zum Besten gaben und die gesamte Runde in brüllendes Gelächter ausbrach.
    Er war ihnen gefolgt, bis er am Horizont einen schmalen grünen Streifen erspähte. Es war Ghuta, die Oase, die von dem an al-Scham vorbeifließenden Fluss gespeist wird. Widerwillig hatte er halt gemacht und der Karawane nachgesehen, bis sie nur noch ein schmaler Keil am Horizont war, eine Speerspitze, die Ghuta durchbohrte. Der grüne Streifen mochte einladend wirken, aber der Dschinn war nicht so tollkühn, sich ihm zu nähern. Er war ein Dschinn der Wüste, und die üppigen Felder von Ghuta waren nicht sein Element. Es kursierten Geschichten von Geschöpfen, die für eigensinnige Dschinn nichts übrig hatten, sie in den Fluss lockten und sie unter Wasser tauchten, bis sie ausgelöscht waren. Er beschloss, ausnahmsweise Vorsicht walten zu lassen und nach Hause zurückzukehren.
    Der Rückweg war
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