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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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nicht einmal nachsehen sollte. Die Dschinn früherer Tage waren unvorsichtig und töricht gewesen und hatten sich einfangen lassen, aber er war weder das eine noch das andere. Es konnte wohl nicht schaden, sie nur zu beobachten.
    Langsam näherte er sich der Karawane, passte sich ihrer Geschwindigkeit an und folgte ihr in sicherem Abstand. Die Männer trugen mehrere Schichten langer, weiter, von der Reise verstaubter Gewänder und schützten ihre Köpfe mit karierten Tüchern vor der Sonne. Der Wind trug dem Dschinn Gesprächsfetzen zu: die Zeit bis zum nächsten Etappenziel oder die Wahrscheinlichkeit eines Banditenüberfalls. Aus ihren Stimmen hörte er die Müdigkeit heraus und erkannte an ihren krummen Rücken, wie erschöpft sie waren. Das waren keine Zauberer! Wenn sie diese Macht hätten, würden sie sich den endlosen Weg ersparen und sich durch die Wüste zaubern.
    Nach ein paar Stunden sank die Sonne immer tiefer, und die Karawane zog in einen ihm nicht vertrauten Teil der Wüste. Der Dschinn ermahnte sich zur Vorsicht und kehrte auf sicheres Terrain zurück. Aber dieser flüchtige Blick auf die Menschheit hatte seine Neugier geweckt. Immer öfter hielt er nach Karawanen Ausschau und folgte ihnen, wenn auch stets in sicherem Abstand; wenn er zu nahe kam, wurden die Tiere nervös und ungebärdig, und auch die Männer spürten ihn als Wind in ihrem Rücken. Nachts, wenn sie in einer Oase oder Karawanserei halt machten, lauschte er ihren Gesprächen. Manchmal sprachen sie von den Entfernungen, die sie zurücklegen mussten, von ihren Mühen, Sorgen und Kümmernissen. Dann wieder erzählten sie von ihrer Kindheit und Geschichten, die sie am Lagerfeuer von ihren Müttern und Großmüttern gehört hatten. Sie tauschten abgedroschene Anekdoten aus, prahlten mit ihren eigenen Heldentaten oder denen von Kriegern, Königen, Kalifen und Wesiren aus längst vergangener Zeit. Sie alle kannten die Geschichten auswendig, aber sie erzählten sie immer anders und stritten heftig über Einzelheiten. Den Dschinn faszinierte besonders, wenn die Männer die Dschinn erwähnten, wenn sie von Suleiman erzählten, dem Menschenherrscher, der die Dschinn siebenhundert Jahre zuvor seiner Herrschaft unterworfen hatte, der erste und letzte König der Menschen, dem das gelungen war.
    Der Dschinn beobachtete sie und hörte ihnen zu – sie waren ein faszinierendes Paradox. Was trieb diese kurzlebigen Geschöpfe an, so selbstzerstörerisch anstrengende Reisen und grausame Kämpfe auf sich zu nehmen? Und wie konnten sie mit Achtzehn oder Zwanzig schon so klug und schlau sein? Sie sprachen von erstaunlichen Errungenschaften in Städten wie al-Scham oder al-Quds: große Märkte und neue Moscheen, wundersame Bauwerke, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Die Dschinn, die sich nicht gern in geschlossenen Räumen aufhalten, hatten nie etwas Vergleichbares angestrebt; als Zuhause brauchten sie nur einen Unterschlupf gegen den Regen. Aber der Dschinn begeisterte sich für die Idee. In einem Tal suchte er eine passende Stelle aus, und wenn er nicht gerade Karawanen verfolgte, baute er sich einen Palast. Er erhitzte den Wüstensand und formte ihn zu undurchsichtigen blaugrünen Glasscheiben, baute daraus Wände und Treppenhäuser, Böden und Balkone. Um die Mauern webte er ein filigranes Netz aus glänzendem Silber und Gold. Er verbrachte Monate damit, je nach Laune Teile zu zerstören und neu zu errichten und zweimal riss er frustriert den ganzen Palast bis auf die Grundmauern nieder. Auch als er fertig und bewohnbar war, wurde der Palast doch niemals wirklich vollendet. In manche Räume fiel das Sternenlicht, weil er ihre Decken anderswo zu Böden verarbeitet hatte. Das filigrane Netz wuchs, als er Edelmetalladern im Wüstengestein fand, und verschwand nahezu vollständig, als er es plünderte, um einen großen Saal damit auszukleiden. Wie er selbst war auch sein Palast in der Regel für andere Wesen unsichtbar; aber die Männer der Wüste erhaschten manchmal aus der Ferne einen Blick darauf, wenn die letzten Sonnenstrahlen das Glas trafen und den Palast glitzernd auflodern ließen. Dann wandten sie sich ab und gaben ihren Pferden die Sporen, und erst viele Meilen später, als sie in Sichtweite ihrer Kochfeuer waren, wagten sie es, sich erneut umzublicken.

    Die Schatten in Castle Garden wurden länger, und noch immer konnte der Dschinn sich nicht vom Anblick des Hafens losreißen. Als Junge war er einmal in einer Oase auf einen Teich
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