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Gold

Gold

Titel: Gold
Autoren: Chris Cleave
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schwerkrankes Kind zu pflegen waren die Olympischen Spiele des Elternseins. Sie hätte es nicht geschafft, sich in den langen Jahren der Krankheit um Sophie zu kümmern.
    Als sie das akzeptiert hatte, verschwand der Schmerz zwar nicht, doch sie konnte ihn leichter für sich behalten. Jeder neue Augenblick überzog ihn mit einer dünnen Schicht des Trostes und glättete seine scharfen Kanten. Sophie war am Leben – nur das zählte. Und Zoe hatte Tom und Kate, sie war also nicht völlig allein.
    Den ganzen Nachmittag saßen die drei schweigend um Sophies Bett, ließen sie nicht aus den Augen und wünschten, sie möge zu sich kommen.
    Als schließlich draußen vor dem Fenster die rote Sonne unter den zerrissenen grauen Wolken versank, öffnete Sophie die Augen.
    Sie war ein paar Minuten still, schaute sich um, nahm dann Zoe, Kate und Jack wahr. Kate holte ihr ein Glas Wasser und nahm die Maske ab, damit sie trinken konnte. Zoe sah, wie Sophie mit ruhigen Augen zu Kate aufblickte und lächelte.
    »Mum?«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Warum ist Zoe hier?«
    Zoe spürte, wie die beiden sie beobachteten.
    Sie beugte sich vor und nahm Sophies kleine warme Hand in ihre. »Ich wollte dir nur sagen …« Dann versagte ihr die Stimme, Tränen brannten in ihren Augen.
    »Was denn?«
    »Etwas, das ich dir noch nie gesagt habe. Was ich dir schon vor Jahren hätte sagen sollen.«
    Sophie blinzelte. »Was?«
    Jack und Kate bewegten sich auf ihren Stühlen. Jack räusperte sich, doch Kate legte ihm die Hand auf den Arm.
    Zoe drückte Sophies Hand und lächelte sie an. »Ich wollte dir erzählen, was für tolle Eltern du hast. Du hast sehr viel Glück gehabt, Sophie. Du hast einen Dad, der dich so gern hat, dass er kaum mit dem Fahrrad geradeaus fahren konnte, weil er immer an dich denken musste, sogar beim größten Rennen seines Lebens. Solche Männer gibt es nicht oft, das weißt du hoffentlich. Und du hast eine Mum, Sophie …«
    Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Du hast eine Mum, die dich so sehr liebt, dass sie bereit war, das Wichtigste auf der Welt für dich aufzugeben.«
    Sie blinzelte rasch, um ihre Tränen zu unterdrücken.
    Sophie schaute sie fragend an. »Ja, ich weiß.«
    Als die Tränen schließlich doch über ihre Wangen liefen, spürte Zoe, wie sich ein Arm um sie legte, und sie ließ ihren Kopf auf Kates Schulter sinken.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin nur so müde.«
    Kate streichelte ihr übers Haar. »Pst«, flüsterte sie, »schon gut. Wir sind nur müde, weil wir so lange Zeit Rennen gefahren sind.«

Zwei Wochen später, Townley Pub, Albert Street, Bradford, Manchester
    Tom kam mit einem doppelten Scotch für sich und einem Mineralwasser für Zoe vom Tresen zurück. Sie saß an einem Ecktisch, das Kinn auf die Hände gestützt, und beobachtete ihn.
    »Was ist? Darf sich ein alter Mann nach einem solchen Tag nichts gönnen?«
    Sie brachte ein kleines Lächeln zustande, das ihn ein bisschen aufmunterte. Er war zufrieden mit ihr. Es war noch nicht die Sonne, aber eine Kerze im Keller. Er freute sich über jeden Fortschritt, nachdem sie in den Stunden nach ihrem letzten Rennen in eine absolute Dunkelheit gefallen war.
    Sie deutete auf das Glas in seiner Hand. »Aber Whisky?«
    »Du kannst mir glauben, wenn es etwas Stärkeres gäbe, hätte ich das genommen.«
    Sie versuchte, noch einmal zu lächeln.
    Er hatte sie zwei Wochen lang nicht aus den Augen gelassen. Tagsüber beschäftigte er sie damit, ihren Sponsorenvertrag abzuwickeln und den Umzug aus ihrer Wohnung zu organisieren. Nachts, bei sich zu Hause, hatte er jede halbe Stunde nach ihr gesehen. Er schlief in Abschnitten von zwanzig Minuten, die ihm der Wecker in brutaler Regelmäßigkeit vorgab. Doch in seinem Alter war es wichtiger, sich mit dem Leben zu versöhnen, als zu schlafen.
    An diesem Morgen hatte er einen kleinen weißen Mietwagen besorgt, der von einem stotternden Motor angetrieben wurde. Damit waren sie nach Süden zu der verfallenen Kirche in Surrey gefahren, deren überwucherten Friedhof sie nie besucht hatte. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, um den Grabstein ihres Bruders zu finden. Er war aus glänzendem schwarzem Marmor und wie ein Teddybär geformt. Die üblichen Angaben waren mit unmenschlicher Präzision mit Hilfe eines computergesteuerten Programms in den Stein gemeißelt worden, dessen Hersteller sich wahrscheinlich auf diese Art von Grabstein spezialisiert hatte und sie in regelmäßigen Abständen in
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