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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein
Autoren: Heidi Rehn
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Geselle kam nicht in Frage. Die schmalen, feingliedrigen Hände, die eifrig in den Seiten des Büchleins blätterten, sprachen dem zuwider. Für einen Kaufmann indes erschien er Agnes zu still. Der musste den Austausch mit anderen suchen, jede Gelegenheit nutzen, um neue Verbindungen zu knüpfen. Was also tat der Mann? In Agnes’ Kopf wirbelten die abenteuerlichsten Vorstellungen durcheinander. Sie wollte, nein, sie musste sein Geheimnis ergründen. Ihr Herz klopfte schneller. Wieder studierte sie jede Regung des Fremden. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, also gut zehn Jahre älter als sie.
    »Was ist, Mädchen? Starrst du Löcher in die Luft? Das wird meinen Durst nicht lindern. Schenk mir endlich nach!« Wütend knallte ein grobschlächtiger Mann den Krug auf die Tischplatte.
    »Bin sofort da!«, rief Agnes. Missmutig sah er ihr entgegen, trommelte ungeduldig mit den dicken Fingern. Die kleinen Augen schwammen in milchigem Sud, die dicke Nase glühte. Aufgeregt wie ein Fisch im brakigen Wasser schnappten seine blutleeren Lippen nach Luft. Dabei stieß er sauren Atem aus. Wie Agnes solche Leute hasste! Ohne ihn anzusehen, goss sie ihm Bier nach.
    »Bist heute wohl nicht so recht mit den Gedanken dabei, was?« Der Mann kniff sie in die Wange. Erschrocken wich sie zurück. »Keine Angst, mein Täubchen, ich geh dir nicht unter die Röcke.« Blitzschnell fasste er nach ihr und hielt sie am Handgelenk fest.
    »Lasst mich!« Durch eine abrupte Drehung versuchte sie sich zu befreien. Er aber ließ nicht los. Bei dem Gerangel verrutschte ihr Halstuch. Hastig versuchte sie es zu richten. Ihr Geheimnis musste gewahrt bleiben. Verzweiflung überfiel sie. Wenn sie wenigstens männlichen Beistand hätte! Seit Fröbels Tod im letzten Jahr wirtschaftete sie mit Mutter und Großmutter allein im Silbernen Hirschen. Nicht einmal Brauknecht Ulrich, der einzige Mann im Haus, war da, um ihr zu helfen. Sie äugte umher. Der Schwarzbärtige vom Nachbartisch sah sie an. Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals, nestelte von neuem am Tuch. Hatte er das hässliche Feuermal entdeckt?
    »Nehmt Eure dreckigen Finger von dem Fräulein! Oder wollt Ihr Ärger?« Mit einem Satz war der Schwarzbärtige aufgesprungen und entriss sie den Fängen des Betrunkenen.
    »Halt ein, du naseweiser Speichellecker!« Angriffslustig hob der Grobian die geballten Hände.
    Das Gemurmel ringsumher verstummte. Agnes meinte, die Männer atmen zu hören, so still wurde es.
    »Überleg dir lieber zweimal, was du sagst!« Der Schwarzbärtige brachte sich ebenfalls in Positur. Ein Anflug von Abscheu huschte über sein freundliches Antlitz. Er überragte den Grobschlächtigen um Haupteslänge. Trotz der breiten Schultern und kräftigen Arme wirkte er nicht wie jemand, der sich sonderlich gern in einen Faustkampf stürzte. Sein Aufzug mit dem eng anliegenden Rock aus englischem Tuch und den modischen zweifarbigen Strumpfhosen sprach dagegen. Die feinen Gesichtszüge und der wache Blick verrieten ihn als einen, der eher mit Worten denn mit gezielten Schlägen zu streiten verstand. Damit aber geriet er bei seinem Widerpart an den Falschen. Das abgerissene Hemd, die flickenübersäte Hose sowie die zahlreichen Narben auf Gesicht und Händen entlarvten seine Lust zu balgen. Wirr stand ihm das Haar vom Schädel ab, schon riss er den Mund zu einem wüsten Geheul auf. Agnes wurde bang um ihren vornehmen Verteidiger.
    »Leg los, wenn du ein Kerl bist, du geleckter Zungenkläffer!«
    Die Faust des Grobians schoss nach vorn. Im letzten Moment duckte sich der Schwarzbärtige weg. Von dem Schlag ins Leere geriet der Angreifer aus dem Gleichgewicht. Behende streckte der Schwarzbärtige ihm die Hand entgegen und bewahrte ihn vor dem Hinfallen. »Mit Trunkenbolden wie dir halte ich mich für gewöhnlich nicht lang auf.«
    Schwungvoll schob er ihn auf die Bank zurück. Agnes atmete auf. Völlig verdutzt ob der ungeahnten Kraftleistung seines Gegners plumpste der Grobian hart auf den Hintern. Die Männer an den übrigen Tischen lachten schadenfroh.
    »Pass auf, du gieriger Buchstabenfresser!« Vor Wut verengte der Grobian die glasigen Trinkeraugen und machte Anstalten, sich wieder zu erheben. Die Beine aber wollten ihm nicht gehorchen. Nach Halt suchend umklammerte er die Tischkante, schwankte allerdings immer noch.
    »Was ist hier los?« Wie aus dem Nichts tauchte der einäugige Brauknecht Ulrich auf. Erleichtert nickte Agnes ihm zu. Ulrich stemmte die Hände in die Hüften und
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