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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein
Autoren: Heidi Rehn
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Herr im Haus bin, gibt es nichts weiter zu überstehen.« Wieder war Kelletat unbemerkt ans Bett zurückgekehrt und stampfte zur Unterstreichung seiner Worte kräftig mit dem Fuß auf den Boden. Davon schreckten die Kinder auf und begannen gleichzeitig zu weinen. Hilflos versuchte Gunda, sie zu beruhigen. Wen von beiden aber sollte sie zuerst an sich drücken? Während sie grübelte, legte sich ein großer Schatten über ihr Bett.
    »Verzeih«, murmelte Kelletat und nahm eines der beiden Kinder auf den Arm. Dankbar lächelte sie ihn an. Mit einem Mal wusste sie: Alles war überstanden. Mit ihm an der Seite konnte ihr und den Kindern nichts geschehen.

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    Erster Teil
    Wehlau und Königsberg
Frühjahr 1455
    Fortune rota volvitur:
    descendo minoratus;
    alter in altum tollitur;
    nimis exaltatus
     
    Das Glücksrad reißt in raschem Lauf
    Fallende ins Dunkel,
    einen andern trägt’s hinauf:
    hell im Lichtgefunkel.
     
    CARMINA BURANA 16,3

1
    A n diesem Vormittag herrschte reges Treiben in der Fröbelschen Schankwirtschaft. Seit den frühen Morgenstunden zogen Händler mit ihren Waren den steinigen Weg vom Ufer der Alle zum Tor an der Westseite der Stadtumfriedung hinauf. Ihr Ziel war der Wehlauer Markt auf dem weiten Platz vor der mehr als einhundert Jahre alten Jakobikirche. Nach Ostern war er besonders gut besucht, galt es doch, die Erzeugnisse des langen Winters wie Felle, Wolle, Web- und Tonarbeiten, Schnitzereien oder Korbgeflechte anzupreisen. Auch zahlreiches Gut zweifelhafter Herkunft fand sich darunter. Nach den unerwartet raschen Siegen des Preußischen Bundes über die Deutschordensritter im Vorjahr riss der Strom der Söldner nicht ab, die die Beutestücke aus den Kreuzherrenpalästen in klingende Münze umzuwandeln suchten. Den meisten Männern bescherte die warme Frühlingssonne einen guten Vorwand, zunächst eine kurze Rast im Silbernen Hirschen gleich hinter dem Stadttor einzulegen. Bis weit ins Samland und Nadrauen hinein war das Bier der braven Wirtin Gunda Fröbel bekannt. Selbst ehemalige Kriegsgegner aus den versprengten Söldner- und Deutschordenstruppen rückten auf den Bänken eng zusammen, um sich den köstlichen Gerstensaft schmecken zu lassen. Kaum kam die siebzehnjährige Wirtstochter Agnes mit dem Einschenken nach, so gierig gossen sich die Männer das erfrischende Nass in die Kehlen.
    Agnes stand trotz des Andrangs allein mit der Magd Griet in der Gaststube. Großmutter Lore war zum Markt gegangen, um frischen Fisch zu erstehen, und Mutter Gunda mischte im rückwärtigen Bau an der Sudpfanne Hopfen unter die Würze. Seit dem Tod ihres Gemahls, des Brauers und Gastwirts Zacharias Fröbel, ging sie dieser Tätigkeit am liebsten für sich nach.
    Kurz hielt Agnes beim Einschenken inne und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Schon die Vorstellung, wie heiß es im Sudhaus am Feuer sein musste, brachte sie ins Schwitzen.
    Sie lehnte sich gegen die Wand, schüttelte das offene, kupferbraune Haar nach hinten und ließ den Blick ihrer rehbraunen Augen über die Gesichter der Händler, Kaufleute, Söldner, Gaukler und Spielleute gleiten. Gedankenverloren lockerte sie das helle Tuch um ihren Hals, das sie sommers wie winters trug. Ein Gesicht schien ihr so ausdruckslos wie das andere. Kaum nahm sie die verschieden stark gekrümmten Nasen, die hohlen oder feisten Wangen, die weit hervorquellenden oder tief in die Höhlen versunkenen Augen wahr. Erst an dem Antlitz eines Schwarzbärtigen ein Stück abseits von den Karten- und Würfelspielern blieb sie hängen. Bald konnte sie den Blick nicht mehr von dem Fremden lassen, sog jede Einzelheit in sich auf.
    Er merkte nichts davon. Leicht vornübergebeugt hockte er da, steckte die auffällig große, an der Spitze leicht nach oben gebogene Nase tief in ein abgegriffenes Büchlein. Den rechten Zeigefinger an den Nasenflügel gepresst, verfolgte er Zeile für Zeile auf den Buchseiten. Eine Strähne des welligen, ordentlich auf Kinnlänge gestutzten braunen Haares verdeckte Stirn und Augenpartie nahezu vollständig. Dafür sprang das Kinn umso deutlicher hervor. Die vollen, gleichmäßig geschwungenen Lippen bewegten sich lautlos, als spräche er ein Gebet. Um einen Mönch mit seinem Brevier handelte es sich wohl trotzdem nicht. Dafür fiel seine Kleidung zu bunt und modisch aus. Für einen Deutschordensmann, der sich angesichts der Niederlage still und heimlich davonstehlen wollte, hielt Agnes ihn allerdings ebenso wenig. Auch ein fahrender
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