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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein
Autoren: Heidi Rehn
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Ölen und feinen Salben fortzaubern. Wie die entstellende Narbe am Kinn, die Lore seit jenem schrecklichen Überfall vor achtzehn Jahren zierte, gruben sich Tag für Tag unerbittlich die Spuren des Daseins auf dem leicht vorgebeugten Leib ein.
    »Du weißt doch, Mutter, eine Brauerin muss wissen, wie gut ihr Wasser schmeckt«, erwiderte Gunda munter. »Nur wenn es von bester Qualität ist, wird ihr auch das Bier gelingen.«
    »Du warst noch nie um eine Ausrede verlegen.« Schmunzelnd schüttelte Lore das Haupt. Einige dünne weiße Haarsträhnen rutschten unter der Haube heraus. Die im Lauf der Jahre krumm gewordenen Finger klimperten ungeduldig mit dem Schlüsselbund am Gürtel. »Wolltest du nicht zum Markt?«
    »Bist du gekommen, um mich daran zu erinnern?« Gunda zwinkerte belustigt. »Dann willst du mich wohl unbedingt loswerden, um das Regiment im Haus zu übernehmen. Meine liebe Tochter aber denkt wohl nicht daran, mich zu begleiten? Dabei haben wir das heute früh besprochen. Es wird Zeit, dass sie Einblick in die Geschäfte jenseits der Sudpfanne gewinnt.«
    Kaum hatte sie das gesagt, schob sich die Siebzehnjährige hinter ihrer Großmutter in den Hof. Gunda musterte sie mit Wohlgefallen. Wie am Morgen vereinbart, trug Agnes das rote Leinenkleid mit den weit auslaufenden Ärmeln, dessen Teufelsfenster mit hellrotem, glänzendem Stoff abgesetzt waren. An Ausschnitt und Ärmelaufschlägen war das Kleid mit einem dunkelroten, reich bestickten Band gesäumt. Der Gürtel war von der gleichen Farbe. Das glatte braune Haar hatte Agnes seitlich über den Ohren zu kreisrunden Schnecken aufgedreht. Wie stets trug sie ein leinenweißes Tuch um den schlanken, langen Hals, um das entstellende Feuermal vor neugierigen Blicken zu schützen. Eine Last, die ihrem Vater geschuldet war. Doch das tat dem selbstbewussten Auftreten des Mädchens keinerlei Abbruch. Je älter sie wurde, desto mehr wuchs sie zu einer wahren Schönheit heran. Kaum vermochte Gunda ihren Stolz zu verbergen. Hoffentlich merkte Agnes das nicht. Das Mädchen sollte nicht hoffärtig werden.
    »Wartest du auf mich?«, fragte Agnes und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange. »Verzeih, aber ich wollte Griet nicht allein in der Schankstube zurücklassen, ohne die Becher der durstigen Gäste noch einmal aufgefüllt zu haben.«
    »Gut.« Wie gern hätte Gunda ihr über die Wange gestrichen, sie in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Doch kaum wollte sie die Hand heben, war da wieder diese unermessliche Scheu, die sie in solchen Momenten stets befiel. Verlegen legte sie die Hand an die Stirn und tat, als müsste sie eine Haarsträhne unter die Haube stecken. Fröbel hatte recht behalten: Mit ihrer Klugheit machte Agnes mehr als einen Sohn wett.
    »Bis später, Mutter.« Gunda nickte Lore zu und eilte Agnes mit großen Schritten zum Hoftor voraus. In einer dichten Traube hefteten sich die Hühner an ihre Fersen. Als Gunda das Tor erreichte, scharrten sie sich noch enger um sie. Sie holte zu einem sanften Tritt aus, um die gackernden Tiere auseinanderzutreiben. Beleidigt pickte eines der Hühner nach ihrem Zeh, erwischte ihn zielsicher durch den Stoff ihres Schuhs. »Autsch!«, entfuhr es Gunda. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie, dass sie keine Schnabelschuhe aus Leder ertrug. Lore nähte ihr eigens welche aus festem Stoff, unter die sie Holztrippen schnallte. Die aber schützten kaum vor dem wütenden Picken eines Huhns. Verärgert stieß sie das Tier in die Seite.
    Dicht gefolgt von Agnes trat sie auf die belebte Straße hinaus. Grell schien die Sonne auf das Getümmel. Dank des warmen Frühlingswetters standen an jedem Haus die Fenster und Türen zu den Werkstätten weit offen. Es klopfte, hämmerte und bohrte an Drehscheiben und Werkbänken, selbst die Gewandschneider und Bortensticker hockten in den offenen Stuben, um ihrem Tagwerk nachzugehen und gleichzeitig das Treiben auf der Straße zu verfolgen. Es war die zweite Woche nach Ostern. Unablässig strömten Händler mit hoch beladenen Karren sowie unzählige Bauersweiber mit vollgepackten Kiezen auf dem Rücken vom Alletor in die Stadt. Vereinzelt versuchten Fuhrleute, ihre von Ochsen gezogenen Wagen durch das Gedränge zu lenken. Empörte Aufschreie flogen durch die Luft. Wie im Sog trieb es alle zum Markt. Ein Junge von kaum acht Jahren trieb eine kleine Ziegenherde vor sich her, ein Mädchen von höchstens neun beaufsichtigte ein halbes Dutzend Gänse. Dazwischen grunzten Schweine
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