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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Sven Böttcher
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weil sie ständig auf Achse sind, und auf einige der anderen kommen wir gleich noch kurz zu sprechen.
    Das Gebiet, das der Betrachter zu überschauen vermag, ist Teil eines … Irgendwas. Denn jenseits des hier mit Worten unzureichend beschriebenen Talkessels und der ihn umschließenden Bergkette ist die namenlose Region unbeschreiblich, und das im ursprünglichen Sinne des Wortes. Zwar kann man mit Fug und Recht behaupten, die Sonne ginge niemals unter, aber andererseits kann man genauso gut das Gegenteil behaupten, weil dort, wo der unvermeidliche Sonnenschatten hinfällt, schließlich ewige Dunkelheit, also finsterste Nacht herrscht. Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn die Anlage eben wäre, aber das ist sie eben nicht. Genauso wenig ist sie rund oder eckig oder kristallförmig oder unförmig oder sonst was.
    Jenseits des für uns sichtbaren Bereichs schließt sich ein Irgendwas an, das nirgendwo endet und nirgendwo beginnt oder je begonnen hat; ein Irgendwas, von dem man nur eines mit Bestimmtheit zu sagen weiß, nämlich, dass es existiert. Es ist also müßig, sich mit dem Aussehen dieses Irgendwas oder seiner Beschaffenheit zu befassen. Es ist schon müßig, überhaupt darüber zu spekulieren, ganz egal, welchem Organ man nun höchstpersönlich die Fähigkeit zuschreibt, derartige Spekulationen vornehmen zu können.
    Verglichen mit dem Irgendwas ist der Talkessel winzig. Verglichen mit dem, was wir gemeinhin je nach Laune oder Schulbildung riesig, immens oder exorbitant nennen, ist er allerdings riesig und immens und exorbitant. Seine zahllosen Bewohner haben sich nach langer Diskussion zwar darauf einigen können, die Sonne nie vollständig aus ihrem Blickfeld verschwinden zu lassen, aber die dämmerungsverliebten Asen haben immerhin durchsetzen können, dass der große Feuerball für einige Stunden des unsterblichen Tages glutrot am Firmament hinter Asgard verharrt.
    Den Olympos-Bewohnern, die das helle Licht des Tages lieben und nur eines mehr verabscheuen als die Dämmerung – nämlich die Asen –, gefällt das nicht besonders, aber als Gott muss man sich halt mit seinen Nachbarn arrangieren.
    Götter können nämlich nicht umziehen.
     
    Pallas Athene stand am Rande des Versammlungssaals von Olympos und sah hinunter in die grüne Senke.
    «Warum macht der alte Mann das bloß?», fragte sie sich kopfschüttelnd, als Hermes gerade hinter ihr vorbeischlich. Ihr Halbbruder blieb stehen und warf einen verstohlenen Blick nach draußen.
    «Wer denn?», fragte er und versuchte den Kamm hinter seinem Rücken zu verbergen, den er Hera wenige Sekunden zuvor geklaut hatte.
    Athene hob den Arm. Verschnörkelte Ringe klimperten an ihrem Handgelenk, während der ausgestreckte Zeigefinger der Göttin auf einen alten, schwarzbärtigen Mann deutete, der gebeugt im Tal herumwanderte, Lehmstückchen aus seinem Bastkorb griff und sie in die Gegend schleuderte.
    «Der», sagte sie. «Dieser
Es
, oder wie der heißt.»
    «Mmh … Also, wenn du mich fragst, wirft er Lehmbrocken oder so was in die Gegend.»
    «Ach, was du nicht sagst, Hermes.»
    «Nicht in diesem Ton, Herzchen.»
    «Entschuldige», sagte die Göttin der Weisheit, der Strategie, des Kampfes und der Handarbeit mit seidenweichem Lächeln. «Entschuldige, Hermes, aber das sehe ich natürlich selbst. Er wirft sich kleine Lehmbrocken über die Schultern, weil er so die Menschen erschafft. Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass er irgendein sibirischer Himmelsgott ist …»
    «Wieso fragst du dann so blöd?»
    «Weil ich wissen möchte, weshalb er
immer noch
wirft. Weshalb er nicht aufhört. Ich meine, niemand glaubt mehr an ihn, kaum ein Sterblicher kennt seinen Namen, also wird ihm sicherlich auch niemand dafür danken. Er könnte sich den Lehm tonnenweise über die Schulter schmeißen …»
    «Pfff. Keine Ahnung.» Hermes zuckte desinteressiert die Achseln. «Sollte ihm mal jemand stecken. Vielleicht weiß der alte Trottel das einfach nicht.»
    Athene kam nicht mehr dazu, dem Götterboten ihre These darzulegen, Es sei seit der Verbannung seiner Gattin Hosodam, die seither das Böse, Irdische zu verkörpern habe, ein sehr einsamer alter Gott, der bloß mit Lehm werfe, weil er im Gegensatz zu sterblichen Witwern keine Blumen auf das Grab seiner Frau legen könne, um sich an die schöne Zeit mit ihr zu erinnern.
    Eine These, die übrigens den Nagel auf den Kopf traf. Athene war nicht umsonst Göttin der Weisheit.
    Sie kam nicht mehr dazu, ihre Vermutung
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