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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
Autoren: Rick DeMarinis
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auf Erden, als deine Schulweisheit sich träumt, mein Freund.«
    »Walt Disney?«, fragte ich.
    »Shakespeare, du Depp. Du solltest irgendwann einmal versuchen, die Klassiker zu lesen, um dein Denkvermögen zu steigern. Die Belohnung dafür ist über alle Maßen zufriedenstellend.«
    »Ich lese deine Sachen, Luther.«
    »Nicht sehr aufmerksam, wie mir scheint. Hol dir ein Bier.«
    In seinem Kühlschrank stand viel Bier und wenig anderes. Ich schnappte mir einen Sechserpack und ging damit zurück ins Wohnzimmer, wo ich Zeuge wurde, wie Luther mit der Behutsamkeit eines Neurochirurgen beim Entfernen eines Hirntumors eine Schallplatte aus ihrer Hülle nahm, Götterdämmerung, aufgenommen 1958 in der Metropolitan Opera. Er legte die Platte auf seinen geliebten 1963er Marantz und richtete den ausbalancierten Tonarm so aus, dass der Diamant das gerillte Vinyl mit dem Druck einer Eiderdaune berührte.
    Luther war kein Anhänger moderner Technologie. Er schrieb seine Romane auf einer kompakten Underwood Standard von 1926, einer schwarz glänzenden Schreibmaschine, die einer zwölf Meter langen Slup als Anker hätte dienen können, und in seiner Musiksammlung gab es nur Vinylscheiben.
    »Danke, ich bleibe bei der analogen Tonwiedergabe«, hatte er einmal zu mir gesagt. »Die digitale Aufzeichnung entstellt das Gefüge der diatonischen Tonleiter. Den meisten Menschen fällt es nicht auf, aber mein Gehör ist hypersensibel. Ich erkenne diese minimalen intradigitalen Auslassungen. Das ist eine meiner Anlagen.«
    Er besaß noch andere Anlagen. So reagierte er ebenso hypersensibel auf alle Spielereien der Mikrochip-Technologie. Auf Mobiltelefone, Palm Pilots, iPods und iPhones, Digitalkameras und Navigationssysteme (»Was zum Teufel ist so schlecht am McNally Road Atlas?«) antwortete er mit dem Zorn eines verschrobenen Maschinenstürmers. Diese Geräte seien der Beweis, dass die Welt von satanischen Kräften übernommen worden sei, deren Lakaien, verhärmte Nerds, sich eines Technosprechs bedienten, den niemand verstehe.
    »Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung will man uns miteinander verdrahten«, behauptete er, »uns sozusagen an die Leine legen und per Knopfdruck beherrschen. Irgendwann kannst du dich nicht mehr entleeren, ohne dass das Ergebnis durch Homeland Security umgehend auf Rückstände von Baba Ghannuoj und anderen Lieblingsspeisen Osamas untersucht wird. Die Japaner haben bereits mit Mikrochips versehene Funktoiletten, die in der Lage sind, anomale Darmtätigkeiten an eine zentrale medizinische Behörde weiterzuleiten, die per Gesetz ermächtigt ist, deine Diät und deine Medikation zu ändern. Rückstände illegaler Substanzen in der Kloschüssel? Du hörst Interpol an deine Tür klopfen, noch bevor du die Hosen hoch hast.«
    Luthers kreatives paranoides Denken tendierte dazu, außer Kontrolle zu geraten. Er rauchte Unmengen von pantopongetränktem Gras, um seinen schöpferischen Verstand zu beruhigen und auf bestimmte Dinge zu konzentrieren. Er hielt sich für einen Pionier des medizinischen Gebrauchs von Marihuana.
    Die dramatischen Soprane kreischten und die kräftigen Männerstimmen bellten. Das Haus erzitterte unter der Wucht analog wiedergegebener High-Fidelity-Donnerschläge.
    Ich musste daran denken, was einst Mark Twain über Wagner gesagt haben soll: »Wagners Musik ist besser, als sie klingt.«
    Luther, der sich inzwischen wieder in seinem Sessel fläzte, hatte unsere Unterhaltung auf Eis gelegt. Mit verklärtem, auf die mit Mythen behaftete Vergangenheit gerichtetem Blick summte er die Melodie vor sich hin. Zugleich ließ er seine dicken Finger im Takt Wagner’scher Opulenz auf der mit Leder bezogenen Sessellehne tanzen.
    Irgendwann holte er eine Kiste Zigarren und eine Dose mit Utensilien unter dem Sessel hervor. Es waren teure Zigarren, Arturo Fuente Hemingways. Er ließ seine Nase an einer entlanggleiten, schnupperte und beschnitt die Zigarre mit einem Zigarrenschneider; anschließend bohrte er mit einem Federmesser eine Höhlung hinein. In die nunmehr geschändete Zigarre wurde Sinsemilla gestopft, jungfräuliche Blüten mit hohem THC-Gehalt, auf der Hochebene von Chihuahua gezüchtet und tagtäglich per LKW in die Stadt verfrachtet. Die Cops nannten es das »Milchmann-Prinzip«. Symbolische Razzien, die zuweilen an der Grenzstation durchgeführt wurden, hielten alle bei Laune. Luther bezeichnete diesen dunklen Zeppelin als seinen »Superjoint«.
    Er paffte kräftig und eindrucksvoll und
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