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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
Autoren: Rick DeMarinis
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ilegal? « — Sind Sie eine Illegale?
    Zu meiner Entlastung kann ich vorbringen, dass ich noch unter dem Einfluss von warmem Essen und Tequila stand.
    Todos somos ilegales, sagte sie.
    Wir sind alle Illegale. Dieser Satz war mir vertraut. Er stand auf der anderen Seite der Santa-Fe-Brücke, auf mexikanischer Seite, hingekritzelt auf dem Betonufer des Rio Grande. Er sollte die Gringos daran erinnern, dass sie Besetzer waren, dass sie Mexiko das Land nördlich des Flusses mit Gewalt oder Waffen oder Geld genommen hatten. Aber er hatte noch eine andere Bedeutung: Das Land zu beiden Seiten des Flusses war Gottes Eigentum und wir waren allesamt wilde Siedler ohne offizielle Genehmigung.
    Ayúdame , sagte sie.
    Ich watete zu ihr hinaus und streckte meine Hand aus. Sie griff danach, hielt sie fest und zog und ich fiel kopfüber in den Fluss. Sofort riss mich die Strömung mit und meine Füße fanden keinen Grund. Ich tauchte auf, spuckte. Jetzt war mein Kopf oberhalb des Wassers, doch der Sog zog mich weiter.
    Mit kraftvollen Bewegungen kam sie hinter mir her, packte erst mein Hemd, dann meinen Gürtel und zog mich auf die Füße. Zusammen kämpften wir uns ans Ufer.
    » Gracias «, sagte ich, als wir Arm in Arm aus dem Fluss stapften und zum Ufer hochgingen.
    » No problema .«
    Dieser Austausch von Höflichkeiten direkt nach unserer Showeinlage im Wasser amüsierte uns beide. Wir mussten lachen. Für eine große Frau hatte sie ein beinahe schüchternes, helles Lachen. Ihre Stimme hingegen war tief und wohlklingend. Melodisch, dachte ich und ahnte sofort, dass Velma Gefallen daran fände.
    Sie hatte eine verschlossene Plastiktüte dabei und machte mir ein Zeichen, dass ich mich umdrehen solle. Ich verstand schließlich und drehte mich um, damit sie ihr nasses Kleid wechseln konnte. Als sie fertig war, trug sie ein anderes weißes Baumwollkleid, jedoch keine Schuhe, weder nasse noch trockene.
    » Necesito empleo «, sagte sie — Ich brauche Arbeit.
    Sie war jung und kräftig und fast ein Meter achtzig. Mestizin, aber mehr indianisch als spanisch. Ihre Wangenknochen waren stark ausgeprägt, sie hatte breite Lippen und tiefliegende Augen. Augen, die meinen nicht auswichen, meinen nicht und wie ich mir vorstellte auch nicht den von anderen.
    Der Fluss hatte sie mir gebracht und sie hatte mich vor dem Fluss gerettet, diese kräftige braune Göttin, die Arbeit brauchte.
    »Ich bin Olga Maria Calderón«, sagte sie, beugte sich zur Seite und wrang ihr Haar aus. »Ich kann Wäsche waschen. Ich kann bügeln.«
    »Das ist großartig, Olga«, sagte ich.
    »Ich kann auch kochen. Ich kann carro fahren.« Sie tat so, als lege sie einen Gang ein, als betätige sie ein Steuer und die Hupe. Am Ende warf sie noch einen Blick aus dem imaginären Seitenfenster.
    »Noch besser«, sagte ich.
    » También , ich spreche inglés .«
    Wir schüttelten uns die Hände, nüchtern wie Diplomaten, die einen Pakt besiegelten.
    »Heute ist unser Glückstag, Olga Maria«, sagte ich.
    Wir gingen auf die Terrasse zu, wo die Hochzeitsfeier noch im vollen Gange war. Olga fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, versuchte es zu trocknen, indem sie Luft in die dicken Strähnen fächerte.
    Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Ganz leise sagte sie: » Región de los sueños .«
    Sie betrachtete die Hochzeitsgesellschaft, den Wohlstand, der hier zelebriert wurde, und dahinter sah sie El Paso und dahinter Amerika:
    Das Land ihrer Träume.
    »Olga Maria Calderón«, sagte ich.
    Beim Klang ihres melodischen Namens fuhr sie zusammen. » Sí señor? «
    »Ich habe Arbeit für Sie.«

Zum Autor
    Rick DeMarinis, geboren 1934 in New York, lehrte über mehrere Dekaden an der University of Texas in El Paso, bevor es ihn nach Olympia, Washington verschlug. Er ist Autor von mehreren Romanen und Short-Story-Sammlungen und wurde 2000 mit dem Independent Book Publishers Award ausgezeichnet. Auch wenn ihm der große Durchbruch bislang nicht gelingen konnte, wird er doch von Kennern der US-Literaturszene als einer der wichtigsten zeitgenössischen Erzähler geschätzt.

Zu den Übersetzern
    Ango Laina (Heinz-M. Vogel), geboren 1947 in Faßberg (Celle). Er ist Buchhändler, Diplomdesigner und studierte Ägyptologie, Iranistik, Klassische Archäologie und Finnougristik in Hamburg.
    Angelika Müller, geboren 1954 in Berlin, Magister in Germanistik und Politologie, zeichnet seit 1988 als Lektorin und Übersetzerin für die Reihe Pulp Master verantwortlich und lässt sich von
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