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Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Titel: Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)
Autoren: Frank W. Haubold
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der finale Gegenschub einsetzt. Der Boden stürzt ihnen entgegen, wobei es inzwischen die Heckkameras sind, die die Bilder zur Brücke übertragen. Staub wirbelt hoch, als die Triebwerksflamme den Boden erreicht – grauer Staub, der ihnen die Sicht nimmt. Doch Mr. Fisher wirkt ausgesprochen entspannt, was zweifellos bedeutet, dass die Landung planmäßig abläuft. Der Ruck, mit dem die Ausleger schließlich auf dem Boden aufsetzen, ist kaum zu spüren.
    »Sehr gut, Mr. Fisher.« Miriams Lob ist keine Floskel. Es gehört einiges an Talent und Erfahrung dazu, ein Schiff wie die Nemesis bei unbekannten Gravitations- und Windbedingungen so elegant zu Boden zu bringen.
    »Nein, bitte nicht«, wehrt sie ab, als der Zwerg das Kompliment erwidern will. Sie kennt Mr. Fisher inzwischen gut genug, um seinen Gesichtsausdruck deuten zu können. Und im Moment möchte sie keine Anzüglichkeiten hören, selbst wenn sie in Schmeicheleien verpackt sind.
    Draußen wartet eine fremde Welt auf sie.
      
    Sie gehen zu dritt, die Waffen im Anschlag.
    Henry ist an Bord geblieben und verfolgt ihre Aktion über die Außenkameras. Und natürlich teilen sie einen Sprechfunkkanal.
    Die Außenbedingungen, Temperatur und Luftdruck, sind nahezu ideal, und selbst die Luft ist vermutlich atembar. Sie benutzen dennoch Sauerstoffgeräte, weil Miriam die Laborauswertungen nicht abwarten wollte. Mit ihren hellen Overalls und den blitzenden Helmvisieren wirken sie vor dem Hintergrund des Dorfes wie Außerirdische oder Mitglieder eines Entseuchungskommandos.
    Es ist tatsächlich ein Dorf mit Fachwerkhäusern, Scheunen und Ställen, die vielleicht schon seit Jahrhunderten verwaist sind. Die dunklen Schindeldächer ducken sich unter der Last der Jahre, aber keines ist beschädigt oder gar eingestürzt.
    Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein hier vor dem Brunnen am Dorfplatz, neben der alten Linde, in deren Schatten Holzbänke stehen. Es gibt keine Kirche, wohl aber eine winzige Kapelle mit einer frei hängenden Glocke am Torbogen und einen kleinen Friedhof mit dunklen Holzkreuzen über den Gräbern.
    Es ist ein richtiges Dorf, und doch haftet ihm etwas Unwirkliches an, das sie Abstand halten lässt von den Häusern und Gehöften, deren Fensterläden seit Jahr und Tag geschlossen sind.
    Sie gehen schweigend, vorbei an Dorfplatz und Kirche, an Friedhof und Gasthaus, die einzige Straße entlang, die ins Hinterland führt. Längst haben sie ihre Waffen sinken lassen. Das Unbehagen, das sie empfinden, entspringt keiner körperlichen Bedrohung.
    Vorbei an Holzzäunen und Weideflächen mit grauem Gras, das viel höher stehen müsste, wäre es wirklich, marschieren sie weiter. Warum sie diesen Weg nehmen, wissen sie nicht. Es spricht wenig dafür, dass sich das letzte Haus, dem sie sich jetzt nähern, in irgendeiner Art von jenen unterscheidet, die sie bereits passiert haben.
    Dennoch zieht es Miriam dorthin, und Ricardo und der Zwerg folgen ihr wie selbstverständlich. Wieder ist es ein Gefühl, das ihre Schritte lenkt, das Gefühl, dies alles schon einmal gesehen zu haben. Nicht in der Realität natürlich – das Dorf gehört in eine andere Zeit –, aber dennoch sieht sie es genau so vor sich.
    Irgendetwas ist mit diesem letzten Haus, das kleiner und schäbiger wirkt als die anderen. Der winzige Garten bietet nur einer Handvoll verkrüppelter Apfelbäume Platz, und das verwitterte Schindeldach ist an einigen Stellen geflickt.
    Sie gehen weiter, die schmale, ungepflasterte Straße entlang, die am Haus vorbei ins Ungewisse führt, und als sie endlich davorstehen, weiß sie es.
    Es ist keine historische Aufnahme, an die Miriam sich plötzlich erinnert, und auch kein Bild aus einer Galerie. Es ist eine Illustration, eine Federzeichnung aus einem alten Buch – einem Gedichtband aus der Bibliothek ihrer Eltern.
    Der Name ihres Vaters stand auf dem Einband, doch nicht er hat die Gedichte verfasst, sondern ein ferner Vorfahr, alt wie die verschnörkelten Schriftzeichen auf den vergilbten Seiten. Miriam sieht sie direkt vor sich, diese Zeilen, und auch die Zeichnung daneben, die genau das Haus zeigt, vor dem sie jetzt steht. Sie muss sie nicht erst entziffern, diese Verse, denn sie sind in ihrem Kopf.
    Langsam, fast wie in Trance, löst Miriam ihren Helm und legt ihn mit der Waffe am Wegrand ab. Sie gehören nicht hierher, nicht zu diesem Haus und nicht zu dem Mädchen, das mit vor Aufregung geröteten Wangen in der Bibliothek steht und sie vor sich hinspricht,
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