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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Autoren: Rüdiger Safranski
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Quellen – Werke, Briefe, Tagebücher, Gespräche, Aufzeichnungen von Zeitgenossen. So wird Goethe lebendig und er tritt auf, wie zum ersten Mal.
    Mit Goethe rückt uns auch seine Zeit nahe. Es sind mehrere historische Zäsuren und Umbrüche, die dieser Mensch durchlebte, der noch im verspielten Rokoko und in einer steifen und altertümlichen Stadtkultur aufwuchs, den die Französische Revolution mit ihren geistigen Folgen umtrieb und herausforderte; der die Neuordnung Europas unter Napoleon erlebte, den Sturz des Kaisers und die Restauration, die doch nicht die Zeit aufhalten konnte; der den Einbruch der Moderne so empfindlich und nachdenklich wie kaum ein anderer registrierte und dessen Lebensspanne auch noch die Nüchternheit und Beschleunigung des Eisenbahnzeitalters und seiner frühsozialistischen Träume umgreift – ein Mensch, mit dessen Namen man später die ganze Epoche dieser ungeheuren Umbrüche bezeichnet hat: die Goethezeit.

Erstes Kapitel
    Schwierige Geburt mit erfreulichen Folgen. Familienbande.
    Zwischen Pedant und Frohnatur. Die Schwester.
    Das freie Reichsstadtkind. Schreibübungen. Der Verseschmied
    und die erste Gretchen-Affäre. Erschüttertes Selbstbewußtsein.
    Den Ernstfall aufschieben. Den gemeinen Gegenständen
    eine poetische Seite abgewinnen.
    Vielleicht ist es Ironie, wenn Goethe zu Beginn seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« bei der Schilderung der schwierigen Geburt deren erfreuliche Folgen für die Allgemeinheit erwähnt.
    Der Neugeborene wäre infolge einer Unaufmerksamkeit der Hebamme fast von der Nabelschnur stranguliert worden. Das Gesicht war schon blau angelaufen und man hielt das Kind für tot. Man schüttelte und klopfte, und es atmete wieder. Der Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, nahm diese lebensgefährliche Geburt zum Anlaß, die Geburtshilfe in der Stadt besser zu organisieren. Es wurde ein Unterricht für Hebammen eingeführt,
welches denn manchem der Nachgeborenen mag zu Gute gekommen sein
. So setzt der Autobiograph seine erste Pointe.
    Der Großvater Textor, der Namensgeber des Neugeborenen, hatte es einst abgelehnt, in den Adelsstand erhoben zu werden. Er hätte seine Töchter, unter ihnen Goethes Mutter Katharina Elisabeth, nicht standesgemäß verheiraten können. Für den Adelsstand war er nicht reich genug, und für bürgerliche Kreise wäre er dann zu vornehm gewesen. Also blieb er, was er war: ein angesehener Bürger und als Schultheiß mächtig genug, um dem Hebammenwesen aufzuhelfen.
    Der Schultheiß war nicht nur höchster Beamter der Bürgergemeinde sondern auch der Vertreter des Kaisers in der Reichsstadt, die das Privileg besaß, Schauplatz der Wahl und Krönung des Kaisers zu sein. Der Schultheiß gehörte zu denen, die den Thronhimmel über dem Kaiser tragen durften. Der Enkel sonnte sich in diesem Glanz, der auch auf ihn fiel, zum Ärger seiner Spielkameraden, die jedoch durch ihn auch Zugang zum Kaisersaal im ›Römer‹ erhielten, wo man die großen Ereignisse nachspielen konnte. Goethe bewahrte dem Großvater Textor ein liebevolles Angedenken. Er schildert ihn, wie er die Obst- und Blumenzucht in seinem Garten besorgt, Rosen schneidet, in einem
talarähnlichen Schlafrock
und auf dem Haupt eine
faltige schwarze Samtmütze
, dem Enkel
das Gefühl eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer
vermittelt.
    Wohl doch ein zu idyllisches Bild. Nach dem Bericht eines Zeitgenossen ging damals in Frankfurt das Gerücht um, daß Goethes Vater bei einem Familientreffen um die Jahreswende 1759/60, als französische Truppen während des Siebenjährigen Krieges in Frankfurt einquartiert waren, seinem Schwiegervater Textor schwere Vorwürfe gemacht habe: er hätte als Schultheiß die fremden Truppen für Geld in die Stadt gelassen. Daraufhin habe Textor mit dem Messer nach dem Schwiegersohn geworfen und der hätte den Degen gezogen. Diese Szene kommt in »Dichtung und Wahrheit« nicht vor. Vom Großvater Textor heißt es dort, er
zeigte keine Spur von Heftigkeit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig gesehen zu haben
.
    Der Großvater väterlicherseits war ein nach Frankfurt zugewanderter Schneider, der sich zum ersten Couturier der vornehmen Welt am Ort emporgearbeitet und die vermögende Witwe des ›Weidenhof‹-Wirtes geheiratet hatte. Der Schneider wurde Hotelier und Weinhändler und war dabei so erfolgreich, daß er bei seinem Tode im Jahre 1730 zwei Häuser, Grundstücke und ein bares Vermögen von 100 000 Talern
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