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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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Plötzlich stand eine alte Frau vor mir, ich hatte ihr Kommen überhaupt nicht bemerkt, so sehr war ich mit mir und meinem Selbstmitleid beschäftigt gewesen. Sie legte mir ein Geldstück in die Hände, und sagte:
    „Ich habe meinen Mann schon vor vielen Jahren an den Russen verloren. Er kam nach über vier Jahren Kriegsgefangenschaft heim, er hatte beide Beine für sein Vaterland geopfert. Nach nur zwei Jahren starb er. Das ist nun schon so viele Jahre her, doch ich weiß, wie Sie sich fühlen. Bitte seien Sie tapfer, es ist einer der Prüfungen, die Gott uns auferlegt. Verzweifeln Sie nicht!“

    Bevor ich ihr antworten konnte – und ich hätte ihr einiges zu sagen gehabt – war sie weitergegangen. Mit ihrem gesenkten Kopf und dem kleinen Buckel sah sie aus wie eine reuige Pilgerin auf Wallfahrt. Mit hastigen, kleinen Schritten ging sie die Strasse hinauf, als ob sie nicht schnell genug von mir wegkommen konnte.

    Hätte ich mir doch damals nur das Genick gebrochen!

    Als ich wieder zu Hause angekommen war, sah Manfred mich wortlos an. Er konnte in meinem Gesicht lesen, dass meine erste Ausfahrt nicht so positiv verlaufen war, wie er es sich erhofft hatte. Doch er ahnte ja nicht,
was
so schiefgelaufen war! Sollte ich es ihm erzählen? Würde er es mir glauben? Würde
ich
denn jemanden ernst nehmen, der mir erzählte, er hätte die Gedanken eines anderen Menschen gelesen?

    Ohne ein Wort fuhr ich in mein Zimmer, und Manfred spürte, dass er mich in Ruhe lassen musste. Ich versuchte, über den Vorfall nachzudenken, doch meine Gedanken schweiften immer wieder in die Vergangenheit ab.

    Ich hatte eine sehr schöne Kindheit gehabt, glaubte ich. Da ich das einzige Kind meiner Eltern war, und mein Vater als Rechtsanwalt nicht schlecht verdiente, wurden mir alle Wünsche erfüllt. Heute glaubte ich, dass sich meine Eltern mit den vielen Geschenken, mit den teuren Spielzeugen, nur freikaufen wollten. Mein Vater schuftete wie ein Besessener, obwohl ich später begriff, dass es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Mein Vater lebte das Leben eines Workaholics. Er arbeitete jeden Tag 12 bis 14 Stunden, nur am Sonntag beschränkte er sich auf den Vormittag,( der allerdings für ihn bereits um 5Uhr30 begann und bis 14 Uhr dauerte). Mein Vater war nie ein Familienmensch gewesen, er hatte immer nur für seine Arbeit gelebt. Selbst nach seinem zweiten Herzinfarkt hatte er damit nicht aufhören können. Aber man hat ihn in der Kanzlei nie zum Partner gemacht, man hatte seine Arbeitssucht einfach nur schamlos ausgebeutet.

    Eigentlich war mein Vater für mich nur während seiner seltenen Urlaube da, die übrige Zeit war er lediglich ein Fremdkörper in unserer Familie. Nur im Urlaub nahm er sich etwas Zeit für mich, dann allerdings hatte er den Anspruch, alles Versäumte innerhalb von zwei Wochen nachzuholen.
    Als ich vier Jahre alt war, versuchte er mir innerhalb von zehn Tagen Schwimmen, Tauchen, Radfahren und Rollschuhfahren beizubringen. Ich konnte bis heute noch nicht auf einem Fahrrad sitzen, ohne herunterzufallen, geschweige denn, damit auch nur einen Meter fahren. (Das galt natürlich auch schon für die Zeit vor der Querschnittslähmung!).
    Ich wollte es meinem Vater immer beweisen, wollte es ihm immer recht machen. Doch natürlich konnte ich seinen Ansprüchen nie genügen. Verdammt, ich war doch noch ein halbes Baby gewesen! Unbewusst hatte ich wohl geglaubt, dass er mehr für mich da sein würde, wenn ich diese ganzen Kunststücke beherrschen würde. Aber das war nie eingetreten.
    Ich konnte mich noch sehr genau an den Tag erinnern, an dem ich das erste Mal für die Jugennationalmannschaft angetreten war. Alle meine Freunde waren gekommen, sogar die Mitschüler, die mich eigentlich nicht ausstehen konnten. Sie alle hatten mich angefeuert, sogar die alte Frau Meißner, meine Klassenlehrerin, hatte mir zugejubelt. Sie hatte zwischen meinen Großeltern gesessen, und ständig war sie aufgesprungen, um mir zu applaudieren. Doch ich hatte kaum ein Auge für diese Menschen gehabt. Ich hatte nur ständig nach meinem Vater Ausschau gehalten. Selbst als ich bereits auf dem Startblock stand, hatte ich zu meiner Mutter geschielt, in der Hoffnung, sie würde mir ein stummes Zeichen für die baldige Ankunft meines Vaters geben.
    Er ist an diesem Tag nicht gekommen, er ist nie zu einem meiner Wettkämpfe gekommen! Ich schlug als Vorletzter an, und mein Trainer machte mir große Vorwürfe, weil ich am Start so unkonzentriert
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