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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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konnte ich die Stimme nicht genau zuordnen, vielleicht weil ich gleichzeitig von dem kleinen Stich abgelenkt war, den ich plötzlich hinter meinem rechten Ohr verspürte. Doch dann wusste ich, wer gesprochen hatte. Aber die Kassiererin konnte diese Worte doch unmöglich gesagt haben!
    [Du armes Schwein! So hübsche blaue Augen, und dann diese verkrüppelten Beine, die aussehen als hätte ein kleines Mädchen seine Puppe zu oft gegen die Wand geworfen. Ganz dünn und verdreht. Die passen überhaupt nicht zu den muskulösen Armen und dem breiten Oberkörper. Also wenn Du nicht im Rollstuhl sitzen würdest, dann würde ich dich jetzt bestimmt anbaggern!]
     
    Das konnte sie doch unmöglich gesagt haben!
     
    Dann begriff ich es. Sie hatte nicht laut gesprochen, sie hatte noch nicht einmal ihre Lippen bewegt. Was ich so deutlich vernommen hatte, waren die
Gedanken
der Kassiererin gewesen!
     
    Das konnte doch nicht möglich sein! Wahrscheinlich waren meine Ängste und meine Unsicherheit so groß, dass ich schon an Wahnvorstellungen litt. Ich war der erste Mensch, der im wachen Zustand Albträume hatte. Denn so sahen meine Träume aus. Früher war ich so etwas wie ein Mädchenschwarm gewesen. Ich sah nicht gerade hässlich aus, meine Schwimmerfigur und die eigene Bude hatten die Mädchen wie ein Magnet angezogen. Ich hatte immer zwischen mehreren Schönheiten aussuchen können, und dies natürlich auch voller Genuss gemacht. Welcher Neunzehnjähriger hätte nicht so gehandelt?
    Doch seit dem Unfall hatten die Frauen einen großen Bogen um mich gemacht. Ich vermutete, dass hing mit genau jenen Gedanken zusammen, die der Kleinen hinter der Kasse gerade durch ihren hübschen Kopf gekreist waren.
     
    Plötzlich wurde mir schwindelig, mein Herz raste wie eine Mondrakete. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich musste hier schnellstens raus; warum hatte mich Manfred denn nur alleine losgeschickt? Hatte dieser miese Pfleger etwa sadistische Züge? Mir wurde klar, was er mir damit angetan hatte.
     
    Die Kassiererin sah mich stumm an. Sie wurde langsam nervös, denn hinter mir hatte sich eine lange Schlange von Ungeduldigen gebildet, die so schnell wie möglich nach Hause zu ihren Fernsehgeräten wollten. Aber sie wagte nicht, mich anzusprechen.
     
    [Mein Gott, hoffentlich bekommt der jetzt nicht auch noch einen Anfall, oder so etwas! Hätte ich doch bloß nicht mit Jutta die Schicht getauscht! Die bleibt selbst bei den unverschämtesten Kunden ruhig und freundlich. Ich verliere schon bei den geringsten Kleinigkeiten die Nerven. Was soll ich nur machen, wenn er plötzlich anfängt zu sabbern und zu zittern? Oder er schreit hier plötzlich rum wie ein Irrer! Scheiße, warum muss immer ich so ein Glück haben?]
     
    Ich wollte tatsächlich schreien. Ich wollte meine Angst und mein Entsetzen rausbrüllen. So plötzlich, wie der Stich, den ich eben hinter meinem rechten Ohr gespürt hatte, wusste ich, dass es kein Albtraum war. Es war auch keine Wahnvorstellung; es war die pure Realität. Es war so real wie das Quietschen meiner Rollstuhlreifen, wenn ich über Linoleum fuhr.
     
    Ich hatte soeben die Gedanken eines fremden Menschen gelesen.
     
    Wir hatten das Phänomen des Gedankenlesens einmal im Biologieunterricht besprochen. Dabei war eine hitzige Debatte zwischen dem Bio-Lehrer und mir entstanden. Ich hielt es für absoluten Unfug, und es machte mich total wütend, dass ausgerechnet ein Naturwissenschaftler es zumindest nicht ausschließen wollte, dass es Menschen mit dieser besonderen Fähigkeit gab.
     
    Innerhalb von Sekunden war mir klar geworden, dass er Unrecht gehabt hatte. Es bestand nicht nur die Möglichkeit, es war eine Tatsache! Ich konnte Gedanken lesen, so wie andere Menschen Bücher lasen. Überwältigt von dieser Einsicht bezahlte ich so schnell wie möglich die Waren, und ohne auf das Wechselgeld zu warten, ergriff ich die Flucht. Ich hielt es keine Sekunde mehr aus; ich nahm mir noch nicht einmal die Zeit, mich zu entschuldigen.
     
    Undeutlich konnte ich noch
hören,
(nicht lesen!), wie eine Kundin, die hinter mir gewartet hatte, sagte, ich sei doch wirklich ein armes Schwein.
    Dann war ich schon auf der Strasse, und drehte die Räder des Rollstuhls so schnell, dass mir schon nach wenigen Metern die Handflächen brannten.
     
     
     
     

2

    Irgendwann blieb ich stehen. Ich konnte nicht mehr, weder physisch noch psychisch. Ich begann zu flennen, die Tränen strömten einfach aus mir hinaus.
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