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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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geschlossen, die Lippen ebenfalls. Da war etwas Intensives unter dieser friedlichen Oberfläche, wie bei einem Säugling. Sie sah aus, als würde sie gerade in eine andere Welt hineingeboren, aber er traute dieser tröstlichen Illusion nicht. Er kontrollierte wieder die Ativan-Pumpe. Sie funktionierte vorschriftsmäßig. Wie hatte Margaret es geschafft, sich irgendwie zu bewegen?
    Er fragte die Hospizpflegerin, als diese zehn Minuten später kam. »Ach, tatsächlich?«, sagte sie erstaunt, als er ihr berichtet hatte, dass sich Margaret trotz der hohen Dosis aufgesetzt und Wasser getrunken habe. »Das habe ich noch nie erlebt«, behauptete sie. Enrique beeindruckte ihre Reaktion nicht. Obwohl man von Medizinern und Pflegekräften eigentlich Sachlichkeit erwartete, neigten sie seiner Erfahrung nach oft zu Übertreibungen. Wenn man Margarets Ärzte und Pflegekräfte hörte, hatte sie schon mindestens ein Dutzend außergewöhnliche Symptome und Reaktionen auf Medikamente gezeigt. Enrique, abergläubisch und histrionisch, wie er war, zeigte sich für solches Gerede empfänglich. Während er sich im Bad auszog, ermahnte er sich, nicht zu stilisieren, was jetzt passierte. Sie stand an der Schwelle des Todes, und jeder, ob medizinisch geschult oder nicht, tendierte in so einer Situation dazu, in den banalsten Vorgängen Bedeutung erkennen zu wollen. Er stieg unter die heiße Dusche und seifte sich ein, froh, den ganzen Horror der Nacht von sich abschrubben zu können. Er hielt den Kopf unter den Duschstrahl, schloss die Augen und rief sich zur Ordnung. Die Margaret, die ich kenne, ist nicht mehr da. Die Margaret, die ich liebe, ist nicht mehr da. Da ist nur noch ihre äußere Hülle. Ihr inneres Licht leuchtet nicht mehr, ich kann die Wärme nicht mehr fühlen und das Strahlen nicht mehr sehen.
    Zuerst konnte er das Bummern an der Badtür gar nicht einordnen. Er dachte, oben wäre irgendetwas heruntergefallen. Dann hörte er Rebeccas panische Stimme: »Enrique! Entschuldige! Enrique! Tut mir leid!«
    Sie ist tot , dachte er.
    »Margaret will irgendwas! Tut mir leid! Wir schaffen das nicht – kannst du kommen?«
    Er stolperte aus der Duschkabine und schnappte sich ein Handtuch. Margaret war wach!
    Er riss die Tür auf. Rebecca und die Hospizpflegerin versuchten Margaret am Aufstehen zu hindern. Sie hatte es irgendwie geschafft, sich auf die Bettkante zu setzen. Sie war nackt bis auf den schwarzen Slip. Ihr Kopf war der Hospizpflegerin zugewandt, aber ihre Augen waren geschlossen.
    »Margaret, ich schaue nur nach Ihrem Port«, sagte die Pflegerin in dem ausdrücklich ruhigen Ton, in dem man mit geistig umnachteten Patienten spricht.
    »Nein!«, sagte Margaret klar und laut. Ihre Hand fuhr blind durch die Luft.
    Enrique tappte auf seinen nassen Füßen vorsichtig hin und hielt dabei das Handtuch um seine Taille zusammen. »Sie wurde plötzlich unruhig –«, erklärte die Pflegerin, wie um sich zu rechtfertigen. Im Hintergrund sagte Rebecca irgendwas, was er aber nicht verstand, weil die Pflegerin weiterredete. »Und ich habe gesehen, dass ihr T-Shirt verschmutzt war, da wollte ich es ihr ausziehen –«
    »Ich glaube, wir sollten sie in Frieden lassen. Einfach in Frieden lassen«, sagte Rebecca ebenfalls in einem ausdrücklich ruhigen Ton, der in ihrem Fall ihre Wut und ihre Angst verbergen sollte.
    Margaret warf den Oberkörper nach vorn. Besorgt fasste die Pflegerin ihre Hände. »Margaret, möchten Sie aufstehen?«
    Und da kam es. Laut und deutlich, als wäre sie ganz undgar wach. »Nein! «, rief sie. Sie öffnete die Augenlider, aber ihre Augen nahmen nichts in den Blick. Sie riss die Hände los und schlug in die Luft. »Nein!« , verkündete sie wieder, mehr Identitätsbehauptung als Aussage.
    »Ich weiß nicht, was Sie möchten«, rief die Pflegerin. Enrique vergaß seine Angst, auf dem Fußboden auszurutschen oder sein Handtuch zu verlieren. Er schaffte es bis zu seiner Frau, war wie sie so gut wie nackt und runzelig am ganzen matten Körper. Er ergriff ihre herzzerreißend dünnen Handgelenke und kniete sich vor sie, so dass sein Gesicht genau auf ihrer Höhe war. »Margaret«, sagte er zu ihren wilden, wütenden Augen.
    Sie versuchte jetzt nicht mehr aufzustehen. Sie sah durch ihn hindurch, als wäre sie blind, als suchte sie etwas anderes oder jemand anderen. Er wusste nicht, was sie wollte, gab ihr aber, was er zu geben hatte.
    »Ich bin hier, Mugs«, sagte er, beugte sich vor und legte die Lippen auf ihre, obwohl
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