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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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und sein Rücken schmerzte. Er steckte das schmutzige Laken, die Waschlappen, den Slip und das T-Shirt in einen der Müllsäcke – Wäsche –, dann die benutzten Feuchttücher und Latexhandschuhe in den anderen – Müll. Die dreckige Bettdecke war zu groß für die Säcke, die er zur Hand hatte. Er ging nach unten, um einen größeren zu holen. Als er zurückkam, hatte sie sich nicht gerührt.
    Das ist wahrscheinlich das Koma, dachte er. Sie bekam überhaupt nichts von ihm und der Welt mit. Reagiert hatte sie nur auf Hautreize. Sie war nicht mehr da. Die Margaret, mit der er unbedingt noch reden musste, war nicht mehr da.
    *
    Enrique versuchte es cool zu nehmen. Obwohl er bereits um die unchristliche Zeit von 8 Uhr 45 auf war, wartete er bis elf Uhr an diesem Neujahrstag des Jahres 1976, ehe er den schweren Hörer des schwarzen Telefons abnahm, um Margarets Nummer zu wählen. Er kam bis zur zweiten Ziffer und legte dann den Hörer so heftig wieder auf, dass die Glocke im Inneren des Apparats ein leises Kling von sich gab. Irgendetwas an der unnatürlichen Stille draußen auf der sonst so lauten Eighth Street sagte ihm, dass es noch viel zu früh war, um sie anzurufen und zu fragen, ob er sie zu dem Brunch abholen solle – und um sich auf diese Art zu vergewissern, dass er immer noch eingeladen war.
    Ihm waren Zweifel gekommen, ob Margaret und ihre Freundinnen ihn wirklich bei ihrer ersten Mahlzeit im neuen Jahr dabeihaben wollten, denn während auf einertrübseligen Silvesterparty Mitternacht näher rückte und damit der für Singles peinliche Moment, in dem man zur Feier des neuen Jahrs jemanden küssen musste, war ihm aufgegangen, dass er gar nicht wusste, wann und wo dieser Brunch stattfinden sollte. Sie hatte ihn eingeladen, aber keine genaueren Angaben gemacht.
    Bis zum nächsten Morgen hatte Enrique daraus bereits den Verdacht konstruiert, dass Margaret ihm absichtlich keinen Ort und keine Zeit genannt hatte, weil sie ihn gar nicht wiedersehen wollte. Im Geist sah er sich den ganzen Tag neben dem Telefon sitzen und warten, bis er schließlich die Nerven verlieren und anrufen würde, nur um von einer gutgelaunten, aber etwas kühlen Margaret beschieden zu werden, dass sie und ihre Freundinnen bis zum Morgengrauen aus gewesen seien und den geplanten Brunch verschlafen hätten, es tue ihr leid, und sie würden demnächst etwas anderes verabreden. Und dann würde er natürlich nie wieder etwas von ihr hören. Er war nunmehr überzeugt, dass Margaret auf der lustigen, lauten, heißen Party, wo sie das neue Jahr 1976 gefeiert hatte, einem Mann begegnet war, dessen Penis funktionierte und in dessen Armen sie jetzt lag, während ihr mit Schrecken einfiel, dass sie ja irgendwie mit dem armen Enrique verfahren musste und mit seiner naiven Erwartung, bald mit ihr Lachsersatz und Bagels zu speisen. Wenn er den Hörer abnahm und den Zeigefinger ins Loch der Wählscheibe steckte, überkam ihn die Vorstellung, was passieren könnte, wenn er tatsächlich anriefe. Er hörte förmlich ihr zufriedenes Lachen, mit dem sie seinen triumphierenden Rivalen beglücken würde, sobald der Hörer wieder auflag, nachdem sie nämlich erklärt hatte, der Brunch falle leider aus, da zwei von ihren Freundinnen an einer Lebensmittelvergiftung litten. Er sah diesen Kerl ihre hübsche Brust umfassen und ihre Brustwarze küssen, während sie kicherte. Es war zu viel. Ruf nicht an, sagte er sich. So schrecklich esauch sein würde, den ganzen Tag beim Telefon zu sitzen – dieses demütigende Warten wäre immer noch besser, als sich zum Idioten zu machen, indem er auf einer Verabredung beharrte, die sie gar nicht wollte. Der Entschluss, nicht anzurufen, beruhigte ihn – wenn er jetzt auch eine bittere Hoffnungslosigkeit empfand.
    Um 11 Uhr 15 nahm er den Hörer wieder ab. Er kam bis zur fünften der sieben Ziffern ihrer Telefonnummer, ehe er den Hörer wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, so dass die Glocke des Apparats diesmal zwei Protesttöne von sich gab, ehe sie sich in ein unheilverkündendes Schweigen hüllte. »Ich halte das nicht aus«, rief er, so nervös und unglücklich, wie er noch nie gewesen war und wahrscheinlich auch nie wieder sein würde. »Ich kann sie nie wiedersehen«, murmelte er, weil er einfach nicht die Kraft hatte, diese Folter noch einmal durchzustehen. Ich bin zu sensibel, sagte er sich, solche Emotionen verkrafte ich einfach nicht. Deshalb bin ich Schriftsteller, wurde ihm klar, ich komme mit der wirklichen Welt
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