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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Dolly und Onkel Fred hatten sich abgewandt, Gieles sah ihre angespannten Rücken.
    »Hast du gesehen, wie ich die Gänse verjagt habe?«, fragte er, obwohl es ihn eigentlich nicht mehr interessierte.
    Seine Mutter löste ihr Gesicht von seinem Hals. Es war gebräunt und faltig. Sie hatte schon so viele Falten um die Augen wie Toons Mutter um den Mund.
    »Nein. Das hab ich nicht richtig sehen können«, antwortete sie ausweichend. »Ich hab dich nur ganz kurz gesehen … mit deinem Schirm …«
    »Ich hatte WELCOME HOME auf den Stoff geklebt. Konntest du das sehen?«
    Sie schüttelte traurig den Kopf und wischte sich Tränen von den Wangen. »Nein, auch das konnte ich nicht sehen. Die Landung war ziemlich ruppig. Wir mussten uns festhalten.« Sie streichelte seine Wangen und anschließend sein Kinn. »Du musst dich rasieren.«
    Dann sagte sie: »Es tut mir leid.« Sie verbarg das Gesicht an seinem Hals und wiederholte immer wieder diesen Satz.
    »Hat jemand von euch gesehen, wie ich die Gänse verjagt habe?«, fragte Gieles. Seine Stimme überschlug sich.
    Niemand antwortete.
    »Hat wirklich überhaupt niemand gesehen, dass ich meine Mutter gerettet habe? Waling? Du hast doch hinter mir gestanden. Du musst doch alles gesehen haben.«
    Während er das sagte, schaute er nicht Waling, sondern seinen Vater an.
    »Junge, die Sache hätte in einer Katastrophe enden können, das weißt du.« Willem klang nicht wütend. Im Gegenteil. »Gänse auf die Piste zu locken. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie fliegen können …«
    Gieles löste sich aus der einarmigen Umklammerung seiner Mutter. »Ich hab sie nicht dahin gelockt. Sie waren plötzlich da. Ich habe Menschen gerettet. Ich habe Mama gerettet.« Er hatte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle.
    »Ich habe Spekulatius gefunden«, sagte sein Vater widerwillig. »Aus Spekulatiusmasse gerollte Kugeln … Und einen Brief an Christian Moullec. Er lag auf deinem Schreibtisch, neben dem Gänsespielbrett …«
    Nach seiner Aktion hatten sie also die Puzzlestücke zusammengesetzt. Hatten in seinem Zimmer herumgeschnüffelt, hatten wie Detektive nach Anhaltspunkten gesucht. Dann hatten sie alle miteinander über ihn gesprochen. Über den durchgedrehten Jungen. Hier im Wohnzimmer, in Meikes Gegenwart. Sie musste ihn für den größten Idioten halten, dem sie je begegnet war. Sie musste sich kaputtgelacht haben.
    Und er hat gesagt, er trainiert die Gänse für eine Castingagentur. Welcome home! Auf einem Schirm! So ein Penner! Ha!
    Aber niemand lachte. Seine Mutter nahm seine Hand.
    »Ich wusste nicht, dass du dir so große Sorgen gemacht hast. Um mich. Das war mir nie richtig klar.« Sie fing wieder an zu weinen.
    »Es hätte in einer Katastrophe enden können«, wiederholte sein Vater. Er kaute so heftig auf seiner Unterlippe, als wollte er sie zerfleischen.
    Gieles schaute auf die nackten Füße seiner Mutter, an denen die Reise ihre Spuren hinterlassen hatte. Die Zehennägel sahen aus wie zertretene Muscheln am Strand, auf der gebräunten Haut waren überall kleine weiße Narben. Er blickte nacheinander die Anwesenden an und sagte ruhig: »Ich hab genau gewusst, was ich tue. Aber ihr wisst nicht, was ich tue. Ihr wisst nicht mal, was ihr selbst tut. Das ist die … das ist erst wirklich eine Katastrophe.«

35
    Meike nahm ihn mit. Er sträubte sich nicht. Es gab nichts, wogegen er sich noch wehren musste. Im Grunde war alles gesagt worden, nachdem seine Mutter ihn plötzlich gefragt hatte: »Was willst du denn, Gieles?«
    Alle hatten ihn angeschaut, und er hatte an Wallie gedacht. Seine kleine Gans war geopfert worden. Das war ein Opfer, gegen das sämtliche Rizla-Jahrgänge gar nichts waren. Tufted und Bufted waren verschwunden. Von einem Augenblick auf den anderen hatte er all seine Gänse verloren. Als Ausgleich für diesen Verlust ließ er seine Mutter versprechen, ihre Reisen in Notstandsgebiete und ihre Solarkocher ein für allemal aufzugeben. Er hatte ihr vorgemacht, wie sie schwören sollte, und zwischen den gespreizten Fingern hindurch auf die Fliesen gespuckt. Sie hatte geschworen und war seinem Vorbild gefolgt. Er empfand es als ungeheuer befreiend, zu sagen, was er wollte, deshalb hatte er gleich weitergemacht. Nach seiner Mutter kam Super Waling an die Reihe. Ihn ließ Gieles versprechen, sich nicht totzuessen. Er sollte sich einer Magenbandoperation unterziehen. Super Waling hatte ihm ohne zu zögern sein Ehrenwort gegeben und kräftig auf den Boden
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