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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth
Autoren: Love Pray Eat
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Geräusche abgeklungen waren.
    Und dann kam nach und nach alles hoch. In dieser Stille gab
es nun Platz für all das Verhasste, Beängstigende, das mir jetzt durch den leer
gefegten Kopf schoss. Ich weinte viel. Und ich betete. Es war schwer und es war
erschreckend, aber so viel war sicher: Keine Sekunde lang wünschte ich mir,
nicht hier zu sein, und nie wünschte ich mir, dass jemand bei mir wäre. Ich
wusste, was ich zu tun hatte, und dass ich es allein tun musste.
    Die einzigen anderen Touristen waren einige Paare, die
hier Romantikurlaub machten. (Gili Meno ist viel zu hübsch und abgelegen, als
dass sich irgendjemand außer einer verrückten Mittdreißigerin hierher verirren
würde.) Ich beobachtete diese Paare und war auch neidisch auf ihr Glück,
wusste jedoch: »Das ist jetzt keine Zeit für Zweisamkeit, Liz. Du hast hier was
anderes zu erledigen.« Ich hielt mich völlig abseits. Aß jeden Tag im selben
kleinen palmblättergedeckten Café, deutete auf der Speisekarte auf das
gewünschte Gericht, das ich dann ohnehin kaum anrührte. Ich hatte keinen
Appetit mehr. Die Inselbewohner ließen mich in Frieden. Ich wirkte wohl ein
bisschen sonderbar auf sie. Schon das ganze Jahr über war es mir nicht gut
gegangen. Man kann nicht so lange so wenig schlafen und so viel weinen, ohne
irgendwann wie eine Psychotikerin auszusehen. Ich wog ungefähr achtzig Pfund
und lief mit permanent bekümmerter Miene und gerunzelter Stirn herum. Folglich
sprach mich auch keiner an.
    Das stimmt nicht ganz. Einer quatschte mich an, und zwar
jeden Tag: ein kleiner Junge, einer aus einer Bande von Bengeln, die am Strand
hin und her laufen und den Touristen frisches Obst verkaufen wollen. Er war
vielleicht neun Jahre alt und schien der Anführer zu sein. Er war zäh,
streitlustig, ein cleverer Gassenjunge, hätte es auf der Insel Gassen gegeben.
Und so musste man ihn wohl einen cleveren Beach-Boy nennen. Irgendwie hatte er
Englisch gelernt, wahrscheinlich durch das Belästigen sonnenbadender Westler.
Und er ließ mir keine Ruhe, dieser Knabe. Keiner sonst fragte mich, wer ich
sei, keiner nervte mich, nur dieses eigensinnige Kind, das einfach Tag für Tag
irgendwann eintrudelte, sich am Strand neben mich pflanzte und wissen wollte:
»Warum sagst du nichts? Warum bist du so komisch? Tu nicht so, als würdest du
mich nicht hören - ich weiß, dass du mich hörst. Warum bist du immer allein?
Warum gehst du nicht schwimmen? Wo ist dein Freund? Warum hast du keinen Mann?
Was ist los mit dir?«
    Mein Gefühl war: Hau ab, Kind! Was bist du
eigentlich? Ein Protokoll meiner peinlichsten Gedanken?
    Jeden Tag versuchte ich, ihn freundlich anzulächeln und
ihn mit einer Geste abzuwimmeln, doch er ließ nicht locker, ehe er mich auf die
Palme gebracht hatte. Und selbstverständlich gelang ihm das immer. Einmal
brüllte ich ihn an: »Ich rede nicht, verdammt noch mal, weil ich auf einer spirituellen
Reise bin, du ungewaschener kleiner Knirps - und jetzt verzieh dich!«
    Lachend rannte er davon. Nachdem er mir einmal diese
Reaktion entlockt hatte, rannte er jeden Tag lachend davon. Aber auch ich
lachte gewöhnlich - sobald er außer Sicht war. Ich fürchtete die kleine
Nervensäge und freute mich gleichzeitig auf sie. Der Junge war die einzige
komische Unterbrechung in dieser wirklich schwierigen Lebensphase. Der heilige
Antonius äußerte sich einmal über seinen Rückzug in die Stille der Wüste, wo er
von allen möglichen Visionen heimgesucht wurde - sowohl Teufeln als auch
Engeln. In seiner Einsamkeit, sagte er, seien ihm manchmal Teufel erschienen,
die Engeln glichen, und dann wieder Engel, die Teufeln ähnelten. Gefragt, wie
er sie unterschieden habe, erklärte der Heilige, dass man sie nur an dem
Gefühl, das sich nach ihrem Verschwinden einstelle, unterscheiden könne. Sei
man entsetzt, dann sei es ein Teufel gewesen. Fühle man sich erleichtert,
spreche alles für einen Engel.
    Ich glaube, ich weiß, was der kleine Pimpf war.
    An meinem neunten Schweigetag meditierte ich bei Sonnenuntergang
am Strand und erhob mich erst nach Mitternacht wieder. »Das ist deine Chance«,
sagte ich zu meinem Geist. »Zeig mir alles, was dich bedrückt. Ich will alles
sehen. Halt nichts zurück.« Nacheinander hoben all die traurigen Gedanken und
Erinnerungen die Hand, standen auf und sagten ihre Namen. Ich betrachtete jeden
Gedanken, jeden Kummer, nahm ihn an und spürte (ohne mich davor schützen zu
wollen) seinen furchtbaren Schmerz. Dann sagte ich zum ersten
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