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Giftweizen

Giftweizen

Titel: Giftweizen
Autoren: Heike Schroll
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waren an manchen Stellen wohl schlimmer als die eigentlichen Wunden der Schussverletzung. Ich denke, er wurde bereits mit dreißig oder vierzig angeschossen.«
»Und, was schätzen Sie, wie lange ist der Mann schon tot?« Zwangsläufig hatte Judith Brunner schon genügend Leichen gesehen, um zu erkennen, dass diese hier älter als die üblicherweise in Krankenhäusern liegenden Toten war.
»Mindestens sechs, sieben Tage. Kommt darauf an, wo er sich in dieser Zeit befand. Ende letzter Woche war es noch recht kühl. Wer weiß? Im Freien kann er unmöglich gelegen haben, es gibt keinerlei Spuren von Insektenbefall oder Tierfraß. Sauber ist er auch.« Hier unterbrach er abrupt und teilte Judith Brunner dann leicht verunsichert mit: »Sein Haar war noch feucht, als ich ihn entdeckte. Offenbar wurde er erst kurz zuvor gewaschen.«
Jetzt fiel Judith Brunner auch der Duft des Bademittels auf, den sie bisher neben dem Verwesungsgeruch nicht wahrgenommen hatte. »Oh, das ist aber wirklich eigenartig, nicht wahr?«
Das Telefon klingelte.
Dr. Renz ging in sein Büro zum Schreibtisch. Er hörte im Prinzip nur zu. Außer einem »Aha« und einem »Das hatte ich befürchtet« war nichts zu vernehmen. Mit einem »Vielen Dank!« legte er auf und teilte Judith Brunner mit: »Hier im Krankenhaus fehlt kein Patient. Dieser Mann wurde demnach von außerhalb hierher gebracht.«
Judith Brunner zog die ersten Schlüsse: »Irgendjemand hat unseren Toten mehrere Tage lang – wahrscheinlich geschützt – aufbewahrt, dann vor Kurzem gewaschen und in die Pathologie des Krankenhauses geschafft. Er sollte also gefunden werden!«
»Da stimme ich Ihnen zu und würde sogar noch weiter gehen: Jemand war um das Wohl des toten Körpers besorgt. Ob das allerdings derjenige war, der ihn vorher aufbewahrt hat?«
»Was meinen Sie?«
»Na, es könnte jemand die Leiche gefunden haben und will nicht in die Sache verwickelt werden. Denkbar auch, der Mann lag bereits in einem Sarg oder war sogar schon beerdigt. Und jemand wollte unbedingt, dass er noch untersucht wird. Das könnte die kürzliche Waschung der schon verwesenden Leiche erklären.«
Judith Brunner gab Dr. Renz recht: »Stimmt. Alles in allem scheint mir das Ganze von einer gewissen Fürsorge zu zeugen. Das Aufbewahren. Das Waschen. Die Leiche unauffällig herzubringen, war sicher auch nicht ganz einfach.«
»Richtig. Und da haben wir das nächste Problem: Wo ist die Leiche aus dem Krankenhaus geblieben, die ich ursprünglich hätte obduzieren sollen? Der alte Mann, der sich – laut Akte – plötzlich unwohl fühlte. Und kurz nach seiner Einlieferung verstorben ist.«
»Womöglich wurde seine Leiche statt dieser mitgenommen.« Judith Brunner sah besorgt auf den vor ihr liegenden geschundenen Körper. »Selbstverständlich müssen wir uns dieses Mannes annehmen.«
Einen Moment schwiegen beide, dann fuhr sie fort: »Und natürlich müssen wir nach dem verschwundenen Toten suchen. Was sagt denn seine Patientenakte über ihn? Vielleicht hilft uns das schon weiter.«
Dr. Renz bat die Kommissarin mit einer einladenden Geste wieder zum Kaffeetischchen zurück und holte die Unterlagen von seinem Schreibtisch. Er schenkte ihnen nach und las vor: »Sein Name war Eduard Singer. Laut Aufnahmeblatt ist er erst gestern Vormittag eingewiesen worden. Er ist Jahrgang 1915, mithin war er jetzt zweiundsiebzig Jahre alt. Mittelgroß, normales Gewicht, allerdings recht kräftig, hier widersprechen sich die Angaben etwas. Jemand hat vermerkt, dass der Patient Gleichgewichtsprobleme hatte. Für eine erfolgreiche Suche – oder eher eine erfolgreiche Identifizierung – entscheidend ist jedoch, dass unser verschwundener Toter ein besonderes Merkmal hatte: Ihm fehlte ein Glied sowohl am rechten Ringfinger als auch am kleinen Finger.«
»Das könnte uns helfen. Steht da auch eine Adresse?«
Dr. Renz sah nach. »Ja. Seine Frau, zumindest vermute ich das, hatte ihn in die Notaufnahme gebracht. Hella Singer. Könnte aber auch die Tochter oder Schwester sein. Die Familie wohnt in Breitenfeld. Ich schreibe Ihnen die Wohnanschrift gerne auf.« Er ging ein paar Schritte zu seinem Schreibtisch hinüber.
Während Judith wartete, dachte sie über alles nach. Zweifelsohne kam eine Menge Arbeit auf sie zu. Aber steckten hinter den Vorkommnissen auch Straftaten?
»Bitte«, Dr. Renz reichte ihr das Blatt mit den Notizen. »Ich könnte sofort mit den Untersuchungen beginnen, wenn Sie mir zustimmen, dass die Situation hier eine besondere
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