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Giftweizen

Giftweizen

Titel: Giftweizen
Autoren: Heike Schroll
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bekannt, dennoch freute sie sich über die nette Begleitung.
Dr. Friedrich Renz erwartete sie schon hinter der großen Glastür, die zu den diversen Untersuchungsräumen und Laboren führte, und geleitete Judith Brunner zu seinem Büro. Er rückte ihr einen Sessel zurecht und bat sie, Platz zu nehmen. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee und ofenfrischem Gebäck, was Judith Brunner nicht verwunderte, denn sie kannte die stilvolle Lebensart des Rechtsmediziners. Und als sie auf das kleine Tischchen sah, entdeckte sie sogar noch frische Sahne. »Ich hatte gar nicht erwartet, so verwöhnt zu werden. Dankeschön!«, lächelte sie Dr. Renz an.
»Wenn ich Sie schon mit so unerfreulichen Dingen wie falschen Leichen behellige, Frau Brunner, dann müssen Sie mir das bitte zugestehen«, gab er eloquent zurück. Renz schenkte ihr den Kaffee ein und sie bediente sich an den verführerisch duftenden Plätzchen.
Judith Brunner schätzte den Kavalier der alten Schule, mehr noch, sie mochte diesen Mann, der schon in seiner aktiven Zeit in Magdeburg über das Maß hinaus, das seinesgleichen zugestanden wurde, als exzentrisch galt. Das bezog sich im Übrigen nicht auf den zynischen oder gedankenlosen Umgang mit den anvertrauten Leichen, wie das oft in Fernsehfilmen oder Büchern kolportiert wurde. Nein, sein Ruf resultierte aus dem Anspruch, jenseits allen Zeitgeistes anderen gegenüber überaus höflich und aufmerksam zu sein, Frauen die Tür aufzuhalten, ihnen in den Mantel zu helfen, oder ihnen – wie eben ihr – eine Sitzgelegenheit anzubieten. Sie kannte ausreichend Kollegen, die ohne diese zivilisierten Gesten auskamen und meinten, sich so emanzipieren zu müssen. Außerdem bemerkte Judith heute wieder einmal, wie es Dr. Renz durch seine verinnerlichten Manieren gelang, jegliche Aufregung oder Anspannung zu kaschieren.
Die Kaffeetasse in der Hand, deutete Dr. Renz mit einem Blick dezent auf drei Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Die Unterlagen selbst sind, soweit ich das bei meiner ersten Durchsicht erkennen konnte, ordentlich geführt. Und bei zweien gibt es auch keine Bedenken – die gehören zu den Leuten, die ich nach einer eingehenden Musterung einstweilen wieder in den Kühlraum gebracht habe. Den falschen Mann, wenn ich das so sagen darf, habe ich mir bisher nur äußerlich gründlich angesehen. Ich vermute aber schon jetzt, ich sollte hier keine der üblichen Krankenhausobduktionen durchführen. Wahrscheinlich haben wir es mit einem unbekannten Toten zu tun« – dabei sah er die Hauptkommissarin demonstrativ an – »und auf jeden Fall, denke ich, sind die Umstände seltsam genug, dass die Polizei hier entscheiden sollte.« An dieser Stelle machte Dr. Renz eine kleine Pause. »Denn bevor ich mit meiner Arbeit anfange, brauche ich Gewissheit, ob hier eine Autopsie am Opfer eines Verbrechens vorzunehmen ist, denn da gelten ja andere Regeln, wie Sie wissen.«
Ohne Regung hatte Judith während dieser Bemerkungen mit Genuss ein mit Zitronencreme gefülltes Blätterteigröllchen verputzt. Aufmerksam sah sie nun den Rechtsmediziner an: »Gut. Ich habe Ihr Problem verstanden. Dann zeigen Sie mir am besten erst einmal die Leiche.«
Beide gingen durch die breite Tür einer Glaswand zu dem Stahltisch, der am hinteren Ende des Obduktionsraumes, und damit am weitesten von der gemütlichen Sitzgruppe entfernt, stand.
Dr. Renz begann: »Ich schätze diesen Mann auf Mitte sechzig, Anfang siebzig; sein Zahnstatus entspräche diesem Alter und die anderen äußeren Merkmale auch.«
Dieser Einschätzung konnte sich Judith Brunner nach kurzer Betrachtung der Leiche durchaus anschließen. Und eingedenk der vielen Narben auf Brust und Bauch des Toten wurde ihr klar, dass er sie hatte dazubitten müssen. Das waren keine Alltags- oder Sportverletzungen, auch keine Operationsnarben. »Wie kann so etwas passieren?«
»Das Streumuster ist typisch«, meinte Dr. Renz, »diese Narben können eigentlich nur von Schüssen aus einer Schrotflinte stammen. Der Zahl der dabei entstandenen Wunden nach wurde er von wenigstens zwei Ladungen getroffen. Zumindest ist das meine erste Vermutung. Aber das lässt sich noch genauer feststellen. Er muss damals Hilfe bekommen haben, sonst hätte er das nicht überlebt.«
»Damals? Wann könnte das denn passiert sein?«, wollte Judith Brunner wissen.
Dr. Renz wiegte den Kopf: »Das ist lange, lange her. Das Narbengewebe ist alt. Und so laienhaft, wie das behandelt wurde ... Die Schnitte und Nahtstellen
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