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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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Hauptsache, sie waren da. Ich freute mich. Auf ihren Glatzen tanzten die Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster hereinfielen, und ein kalter Luftstrom ließ mich schaudern. Es war ein kühler Vorfrühlingsmorgen. Laura merkte, daß ich eine Gänsehaut hatte, und schloß das Fenster wieder mit einer Bemerkung über den Mief, der bei ihrem Kommen in der Bude geherrscht habe.
    »Wie habt ihr hergefunden?« wollte ich wissen.
    »Es ist ein offenes Geheimnis, wo deine Eremitage liegt«, sagte Markus, der Maler. Er hatte jahrelang beharrlich versucht, durch sein Engagement wieder surrealistische Elemente in die neuen Kunstströmungen einfließen zu lassen, ohne jedoch damit Furore gemacht zu haben. Er war es auch gewesen, der die »kleinen Zettel« in unserem Kreis eingeführt hatte … Alleinsein ist das Fegefeuer.
    »Du wirst uns doch nicht vor die Tür setzen, Marty?«
    »Was denkst du! Ich freue mich riesig.«
    Es wurde fast wieder so wie in alten Zeiten. An den Abenden kursierten die kleinen Zettel, wir diskutierten über Gott und die Welt und lästerten über Prana. Kein Thema war uns zu brisant oder zu banal, als daß wir es nicht bis zum Überdruß durchgekaut hätten. Nichts war uns heilig, wir zogen alles in altgewohnter Manier durch den Kakao. Nur unser Themenkreis wurde um eine Aktualität bereichert: Prana! Es freute mich, daß Prana für die anderen kein Tabu war … Deine Einsamkeit im Strom der Massen.
    Anfang März stieß Heinz zu uns. Drei Tage darauf trafen Ingrid und Herbie ein.
    »Wir hoffen, du jagst uns nicht wieder weg?«
    »Willkommen im Irrenhaus.«
    Es ging auch wirklich verrückt zu, verrückter noch als früher in der Blütezeit unserer Jugend. Unsere Clique erlebte eine wundersame Renaissance.
    Conny erlegte mit einer Flinte, die er in einem Jagdhaus organisiert hatte, einen Bären, und war danach eine volle Woche unansprechbar. Er konnte es nicht verstehen, daß er den Bären getroffen hatte, obwohl er zum erstenmal im Leben eine Waffe benutzt hatte. Das lieferte uns für eine Weile Gesprächsstoff. Wir ernannten Conny zum Wildhüter über den gesamten irdischen Tierbestand. Conny nahm das Amt an und überwand langsam den Schock, den ihm sein Blattschuß verursacht hatte.
    Ingrid bekam das Ressort »Sex und Unsinn« zugesprochen, Markus wurde zum Referenten für Kunst und Kultur, und es war seine fiktive Aufgabe, das intellektuelle Erbe der abgewanderten Menschheit zu verwalten. Sandra kandidierte mit säuerlicher Miene für das Amt der Prana-Hohenpriesterin und wurde einstimmig gewählt. Herbie wurde zum Schutzpatron der Handwerker ausgerufen, denn so ungeschickt wie er war keiner. Ich übernahm den Vorsitz vom »Klub der Einsamen Herzen« und mußte jede Menge Hänseleien wegstecken. Für einen Einsiedler hatte ich doch überraschend viel Gesellschaft, und ich genoß die Geselligkeit.
    Ich war wie berauscht. Jeder Tag brachte neue Höhepunkte, das Leben wurde zum Karneval, und ich hatte nicht die Zeit, mich zu fragen, wie ich es all die Jahre allein ausgehalten hatte.
    Der Frühling ging vorbei, und Anfang Sommer tauchten Toni und Trude auf. Das Fest, das wir ihnen zu Ehren gaben, dauerte einige Tage und Nächte und endete auch danach nicht. Aber wir brachten die Tage und Nächte nicht nur mit Saufen, Spielen und Diskutieren durch. Wir schliefen viel und machten zwischendurch auch ausgedehnte Wanderungen zu den umliegenden Gehöften. Wenn es uns wo gefiel, blieben wir oft tagelang dort. Und wir kamen nie mit leeren Händen zurück, sondern packten uns mit Vorräten und Luxusgütern voll.
    Bei einem dieser Abstecher in die fernere Umgebung entdeckte ich im Dachstudio eines luxuriösen Landhauses das Teleskop. Sandra verstand nicht, warum ich es unbedingt mitnehmen wollte. Ich wußte es auch nicht, ich hatte keine bestimmten Absichten, aber ich nahm es mit.
    »Was gäbe Marty, wenn er damit nach drüben sehen könnte«, stichelte Toni. Er war zu unserem Chronisten avanciert und hatte stets sein Notizbuch gezückt. Er notierte sich alles, was seiner Meinung wert war festgehalten zu werden, und sein Stil hatte Witz und Ironie. Er war der geborene Satiriker. Damals dachte ich, daß spätere Generationen sich ein falsches Bild von unserer Anfangssituation machen mußten, wenn sie in hundert Jahren oder so Tonis »Geschichtsaufzeichnungen« lesen würden. Aber solche Überlegungen sind nun müßig, denn die Notizen haben nicht einmal vier Jahre überdauert. Ich kann sie nirgends finden, wie
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