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Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Titel: Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Autoren: Frl. Krise
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Völlig. Hanna und Erkan liegen mit den Köpfen auf den Tischen, Emre quatscht mit Azzize, Ömür versucht unauffällig eine Doppelschnitte mit Käse und Salami zu essen, Sam malt geheime Zeichen in ein Heft, Aynur und Necla tauschen Kosmetikartikel unter der Bank aus, Fuat gähnt herzzerreißend, und Hassan kratzt den Lack von seinem Bleistift mit einer kleinen Schere ab. Und im Januar soll’s mit den ersten Bewerbungen losgehen. Na, danke schön!
    Musti kämpft sich inzwischen durch das Gespräch. Er macht es sehr gut, ich bin erstaunt. Im Unterricht ist er oft so verpeilt, aber hier wirkt er ziemlich erwachsen und so, als ob er wüsste, was er will.
    Jetzt ist Fuat dran. Aber eher könnte man den Kölner Dom auf die Rheinwiesen umsetzen, als diesen Sturkopf nach vorne zu bekommen.
    «Ich mach das nicht», sagt er, verschränkt die Arme, zieht eine Schnute und schließt die Augen.
    Am Ende haben wir nur drei Gespräche gesehen.
    Die waren aber äußerst lehrreich, jedenfalls für mich. Sollte ich mich noch mal irgendwo bewerben müssen, weiß ich nun, dass ich meinen Kaugummi rausnehmen muss, mich nicht an prekären Körperteilen kratzen sollte, nicht den Lack von meinen Fingernägeln abknabbern und auf gar keinen Fall sagen darf:
    «Berufswunsch? Chef! Ha, ha, ha!»

Zappen gefällig?
    «Ich will ’ne Fernbedienung fürs Leben Rückwärts Pause Play Vorwärts!»,
    schreibt Azzize auf Facebook.
    Eine verrückte Idee eigentlich, so eine Fernbedienung. Allerdings, gäbe es sie, würden unsere Schüler wohl nie mit der Schule fertig werden. Oder viel zu schnell … Oder …?
    Eben habe ich die Klassenliste durchgesehen. Die Zeugnisse werden schlecht, jedenfalls die meisten. Viele, sehr viele bleiben sitzen. Auch Erkan. Auch schon wieder. Er ist wahrscheinlich der intelligenteste Junge unserer Klasse. Zumindest war er das einmal, inzwischen hat er das Lernen verlernt.
    Wir kommen nicht mehr an ihn heran, seine Eltern sagen das Gleiche. Er lacht abwehrend, wenn wir mit ihm sprechen, und sagt dabei, ja, er wisse, dass alles schieflaufe, aber das könne er leider nicht ändern.
    Bei Aynur ist es ganz ähnlich. Sie ist eigentlich ein kluges Mädchen, gibt sich aber unglaublich ignorant, verweigert jede Arbeit und kommt und geht, wie es ihr gefällt. Auch sie erreichen wir im Moment nicht.
    Ich bin lange genug im Schuldienst, um zu wissen, dass für beide noch nicht alles verloren ist. Aber den kurzen geraden Weg in die Ausbildung haben sie schon verpasst.
    «Echt?», sagte Hanna vorgestern. «Bin ich letztes Jahr sitzengeblieben? Aber jetzt ist doch erst Halbjahr, oder?»
    Hanna könnte locker den Realschulabschluss machen. Aber sie arbeitet nur sehr sporadisch mit, dafür beobachtet sie alles, was um sie herum geschieht. Sie kommentiert jede Aktion, fühlt sich ständig angegriffen und «schlägt» hemmungslos zurück.
    Diese Zeugnisse, es ist deprimierend.
    Es gibt keine Rezepte für solche Jugendliche. Geduld, positive Verstärkung, klare Grenzen, dabei hohe Kompromissbereitschaft, Konsequenz, jedoch nicht um ihrer selbst willen, also Strenge und Großzügigkeit im richtigen Verhältnis und im richtigen Moment, professionelle Distanz und Zugewandtheit und ganz wichtig: Humor! Ohne den geht einem schnell die Puste aus. Nur so kommt man weiter.
    Sanktionen? Ja, die vergess ich schon nicht. Aber die große Wende darf man sich von denen auch nicht erwarten.
    Unterricht ist immer ein Drahtseilakt. Alles, was den normalen Schulalltag verändert, wirft uns unter Umständen sofort zurück. Projekte mit Fremden, veränderte Zeiten, Wochenenden, hohe Erwartungen in Prüfungszeiten, eine Wespe im Klassenzimmer, umgestellte Stundenpläne, andere Räume, Lehrerwechsel, unausgebildete Lehrkräfte, ein neuer Schüler, Feiertage, Ferien, eine defekte Birne im Projektor, schlechtes Wetter – das sind ja nur einige der Störfaktoren. Täglich gibt es andere und neue. Und was sich alles in den Familien, auf der Straße und an anderen Schauplätzen abspielt, weiß man in der Regel gar nicht.
    Wir balancieren. Einen Tag kommen wir gut vorwärts, am nächsten Tag stürzen wir ab.
    Ich bitte, das nicht als Gejammer aufzufassen! So ist es nun mal, und wir können es uns nicht aussuchen. Andere Berufe haben auch ihre Schwierigkeiten. Hat nicht schon der olle Jöthe über die Lehrer gesagt: «Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg …»?
    Letztlich zählt, ob man es geschafft hat, Bindungen aufzubauen.
    Bei Erkan ist es
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