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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt
Autoren: Steven Pinker
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einzulullen. Auch ein großer Teil unserer Geisteswelt mag nicht einräumen, dass Zivilisation, Modernität und abendländische Gesellschaft auch ihr Gutes haben könnten. Die wichtigste Ursache für die Illusion von allgegenwärtiger Gewalt dürfte aber wahrscheinlich gerade in einer jener Kräfte liegen, die überhaupt erst für den Rückgang der Gewalt gesorgt haben. Parallel zur Verringerung gewalttätigen Verhaltens verringerte sich auch die Neigung, Gewalt zu tolerieren oder zu verherrlichen, und oftmals spielen solche Neigungen eine Vorreiterrolle. Nimmt man die massenhaften Gräueltaten der Menschheitsgeschichte zum Maßstab, so ist die Giftspritze für einen Mörder in Texas oder ein gelegentliches Hassverbrechen, bei dem ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit von jungen Hooligans bedroht wird, eine recht harmlose Angelegenheit. Aus heutiger Sicht jedoch sehen wir darin kein Indiz dafür, wie hoch unsere Maßstäbe mittlerweile gestiegen sind, sondern ein Zeichen, wie tief Menschen mit ihrem Verhalten sinken können.
    Angesichts solcher Voreingenommenheiten muss ich Überzeugungsarbeit mit Zahlen leisten, die ich aus Datensammlungen entnehme und graphisch darstelle. Ich werde in jedem Einzelfall darlegen, woher die Zahlen stammen, und mir alle Mühe geben, sie zu interpretieren und zu zeigen, warum sie zusammenpassen. Das Problem, dass ich umrissen habe, lautet: Wir müssen den Rückgang der Gewalt in vielen verschiedenen Maßstäben verstehen – in der Familie, im persönlichen Umfeld, zwischen Bevölkerungsgruppen und anderen bewaffneten Fraktionen und zwischen größeren Nationen und Staaten. Hätte die Geschichte der Gewalt auf jeder dieser größeren und kleineren Ebenen ihren eigenen Verlauf genommen, so würde jede davon in ein eigenes Buch gehören. Wie ich aber zu meiner Verblüffung immer wieder feststellen musste, zeigt der globale Trend aus unserer heutigen Sicht in fast allen Fällen nach unten. Es ist also angebracht, die verschiedenen Trends zwischen einem einzigen Paar Buchdeckel zu dokumentieren und in der Frage, wann, wie und warum sie sich abgespielt haben, nach Gemeinsamkeiten zu suchen.
    Wie ich hoffentlich überzeugend darlegen werde, haben sich zu viele Formen der Gewalt in der gleichen Richtung entwickelt, als dass es Zufall sein könnte. Das verlangt nach einer Erklärung. Es wäre nur natürlich, die Historie der Gewalt als moralische Geschichte zu erzählen, als Geschichte über den heldenhaften Kampf der Gerechtigkeit gegen das Böse; aber das ist nicht mein Ausgangspunkt. Ich verfolge einen wissenschaftlichen Ansatz in dem weitgefassten Sinn, dass ich Erklärungen dafür suchen möchte, warum etwas geschieht. Vielleicht entdecken wir, dass ein bestimmter Fortschritt in der Friedensliebe von moralischen Unternehmern und ihren Entscheidungen ausging. Wir könnten aber auch entdecken, dass die Erklärung prosaischer ist und beispielsweise in einem Wandel von Technologie, Regierungshandeln, Wirtschaft oder Wissen liegt. Wir können den Rückgang der Gewalt auch nicht als eine Art unaufhaltsame Kraft in Richtung Fortschritt verstehen, die uns in Richtung eines vollkommenen Friedens führt. Er ist vielmehr eine Ansammlung statistischer Trends im Verhalten von Menschengruppen während verschiedener historischer Epochen, und als solcher verlangt er nach einer Erklärung unter psychologischen und historischen Gesichtspunkten: Wie ist der Geist der Menschen mit wechselnden Lebensverhältnissen umgegangen?
    Ein großer Teil des Buches wird sich mit der Psychologie von Gewalt und Gewaltlosigkeit beschäftigen. Die Theorie des Geistes, auf die ich dabei zurückgreife, ist das gemeinsame Ergebnis von Kognitionsforschung, neurowissenschaftlicher Affekt- und Kognitionswissenschaft, Sozial- und Evolutionspsychologie und anderer Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Wesen des Menschen beschäftigen und die ich in meinen Büchern
Wie das Denken im Kopf entsteht, Das unbeschriebene Blatt
und
The Stuff of Thought
vorgestellt habe. Nach diesen Erkenntnissen ist der Geist ein komplexes System kognitiver und emotionaler Fähigkeiten, die im Gehirn umgesetzt werden und ihre grundlegende Konstruktion den Evolutionsprozessen verdanken. Manche dieser Fähigkeiten schaffen in uns eine Neigung zu verschiedenen Formen der Gewalt. Andere – »die besseren Engel unserer Natur«, wie Abraham Lincoln sie nannte – disponieren uns zu Zusammenarbeit und Frieden. Um den Rückgang der Gewalt zu
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