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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt
Autoren: Steven Pinker
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Homer gelten als die ersten großen Werke der abendländischen Literatur und nehmen in vielen Leitfäden über literarische Kultur breiten Raum ein. Sie spielen in der Zeit des Trojanischen Krieges um 1200  v.u.Z., verfasst wurden sie aber viel später, zwischen 800 und 650  v.u.Z.; nach heutiger Kenntnis spiegelt sich in ihnen das Leben der Stämme und Stammesfürstentümer wider, die es zu jener Zeit im östlichen Mittelmeerraum gab. [11]
    Oft liest man heute, der totale Krieg, der auf eine ganze Gesellschaft und nicht nur auf ihre Armee zielt, sei eine moderne Erfindung. Als Ursachen wurden die Entstehung der Nationalstaaten, Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch und eine Technologie zum Töten aus der Entfernung genannt. Wenn Homers Beschreibungen aber stimmen (und tatsächlich stimmen sie mit den einschlägigen Befunden aus Archäologie, Ethnographie und Geschichtsforschung überein), war der Krieg im archaischen Griechenland ebenso total wie ein beliebiger Konflikt aus der Neuzeit. Agamemnon erklärte dem König Menelaos seine Pläne für den Krieg so:
    »Du, Menelaos, mein Lieber, warum begünstigst du derart
    unsere Feinde? Die Troer behandelten dich wohl daheim aufs
    beste? Nicht einer von ihnen entrinne dem jähen Verderben,
    keiner unseren Fäusten! Auch nicht das Knäblein im Schoß der
    Mutter, auch das nicht! Nein, sie sollen verschwinden aus Troja, ausnahmslos alle, verschwinden ohne Bestattung und spurlos!« [12]
    Der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall erläutert in seinem Buch
The Rape of Troy
, wie Kriege damals geführt wurden:
    In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt, bevor Nachbarn ihnen zu Hilfe eilen können. Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines plötzlichen, gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder, und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigung und Sklaverei ankündigten. [13]
    Heute liest man ebenfalls häufig, die Kriege des 20 . Jahrhunderts hätten eine beispiellose Zerstörungswirkung gehabt, weil sie mit Maschinengewehren, Artillerie, Bombern und anderen auf große Entfernung wirkenden Waffen geführt wurden, welche die Soldaten von ihrer natürlichen Hemmung gegenüber dem Kampf Mann gegen Mann befreiten und die Möglichkeit schufen, gnadenlos eine große Zahl gesichtsloser Feinde zu töten. Nach dieser Überlegung waren Handwaffen nicht annähernd so tödlich wie unsere Hightech-Methoden der Kriegsführung. Aber Homer lieferte lebendige Beschreibungen über das Ausmaß der Schäden, die Krieger auch zu seiner Zeit anrichten konnten. Gottschall nennt ein Beispiel für solche Schilderungen:
    Von kalter Bronze erstaunlich leicht durchbrochen, strömt der Inhalt des Körpers in zähflüssigen Strom heraus: Stücke von Gehirnen werden am Ende zitternder Speere sichtbar, junge Männer halten mit verzweifelten Händen ihre Gedärme zurück, Augen werden ausgestochen oder aus dem Schädel geschnitten und schimmern blicklos im Staub. Scharfe Spitzen schaffen sich immer neue Zu- und Ausgänge in jungen Körpern: mitten in der Stirn, in den Schläfen, zwischen den Augen, am unteren Ende des Halses, sauber durch Mund und Wangen und auf der anderen Seite wieder hinaus, durch Flanken, im Schritt, durch Gesäß, Hände, Nabel, Rücken, Magen, Brustwarzen, Brust, Nase, Ohren und Kinn … Speere, Spieße, Pfeile, Schwerter, Dolche und Steinbrocken gieren nach dem Geschmack von Fleisch und Blut. Blut spritzt hervor und bildet Nebel in der Luft. Knochenstücke fliegen herum. Aus frischen Stümpfen quillt das Knochenmark.
    Nach der Schlacht fließt Blut aus tausend tödlichen oder verstümmelnden Wunden, verwandelt den Staub in Schlamm und düngt das Gras der Ebenen. Männer, die durch schwere Kampfwagen, Hengste mit scharfen Hufen und die Sandalen der Männer in den Boden gepflügt wurden, sind bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Das Feld ist von Waffen und Rüstungen übersät. Leichen liegen überall, verwesen und werden zum Festmahl für Hunde, Würmer, Fliegen und Vögel. [14]
    Im 21 . Jahrhundert wurden sicher zu Kriegszeiten Frauen vergewaltigt, aber das
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