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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt
Autoren: Steven Pinker
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erklären, müssen wir also die Veränderungen unseres kulturellen und materiellen Umfeldes benennen, die unseren friedlichen Motiven zur Vorherrschaft verholfen haben.
    Und schließlich muss ich zeigen, wie die Geschichte unsere Psyche beschäftigt hat. In menschlichen Angelegenheiten ist alles mit allem anderen verknüpft, und das gilt ganz besonders für die Gewalt. Quer durch Raum und Zeit sind friedlichere Gesellschaften im Allgemeinen auch reicher, gesünder, gebildeter, besser regiert, respektvoller gegenüber ihren Frauen, und sie treiben häufiger Handel. Die Frage, welche dieser guten Aspekte den positiven Kreislauf in Gang gesetzt haben und welche erst unterwegs dazukamen, ist nicht leicht zu beantworten; man ist geneigt, sich auf unbefriedigende Zirkelschlüsse zurückzuziehen und beispielsweise zu behaupten, die Gewalt sei zurückgegangen, weil die Kultur weniger gewalttätig geworden sei. In der Sozialwissenschaft unterscheidet man zwischen »endogenen« Variablen – das heißt solchen, die sich innerhalb des Systems befinden und gerade durch das Phänomen, das man mit ihnen erklären will, beeinflusst werden – und exogenen Faktoren, die durch äußere Kräfte in Gang gesetzt werden. Diese Kräfte können aus dem Bereich des Praktischen kommen wie Veränderungen in Technologie, Bevölkerungsentwicklung und den Mechanismen von Wirtschaft und Politik; sie können aber auch im intellektuellen Bereich liegen, beispielsweise wenn neue Ideen erdacht und verbreitet werden und ein eigenständiges Leben führen. Eine Erklärung für einen historischen Wandel ist dann am zufriedenstellendsten, wenn sie einen äußeren Auslöser benennen kann. Soweit die Daten es zulassen, werde ich nach äußeren Kräften suchen, die unsere geistigen Fähigkeiten zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise in Anspruch genommen haben, so dass man behaupten kann, sie hätten den Rückgang der Gewalt verursacht.
    Die Erläuterungen, mit denen ich diesen Fragen gerecht werden möchte, summieren sich zu einem dicken Buch – es ist so dick, dass ich die Geschichte nicht verderbe, wenn ich einen Ausblick auf einige wichtige Schlussfolgerungen gebe.
Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit
berichtet über sechs Trends, fünf innere Dämonen, vier bessere Engel und fünf historische Kräfte.
    Sechs Trends
(Kapitel 2 bis 7 ): Um die vielen Entwicklungen, die den zunehmenden Verzicht unserer Spezies auf Gewalt ausmachen, in einen gewissen Zusammenhang zu stellen, ordne ich sie in sechs Haupttrends ein. Der erste wurde im Zeitmaßstab der Jahrtausende deutlich: der Übergang von der Anarchie einer Gesellschaft aus Jägern, Sammlern und Gärtnern, in der unsere Spezies während des größten Teils ihrer Entwicklungsgeschichte lebte, zu den ersten landwirtschaftlich geprägten Hochkulturen mit Städten und Regierungen. Mit diesem Wandel, der vor rund 5000  Jahren begann, verringerten sich die chronischen Überfälle und Fehden, die das Leben im Naturzustand gekennzeichnet hatten, und der Anteil der gewaltsamen Todesfälle ging mehr oder weniger auf ein Fünftel zurück. Diese Auferlegung von Frieden bezeichne ich als Befriedungsprozess.
    Der zweite Übergang zog sich über mehr als ein halbes Jahrtausend hin und ist in Europa am besten belegt. Zwischen dem Spätmittelalter und dem 20 . Jahrhundert erlebten die europäischen Staaten einen zehn- bis fünfzigfachen Rückgang der Mordquote. Der Soziologe Norbert Elias führt diesen überraschenden Rückgang in seinem klassischen Werk
Über den Prozess der Zivilisation
auf die Festigung der Feudalstaaten zurück, die zu großen Königreichen mit zentraler Behördenautorität und einer Infrastruktur für Handel wurden. Mit einer Verbeugung vor Elias bezeichne ich diesen großen Trend als Zivilisationsprozess.
    Der dritte Übergang entfaltete sich im Zeitmaßstab einiger Jahrhunderte und begann im 17 . und 18 . Jahrhundert, also im Zeitalter der Vernunft und der europäischen Aufklärung (Vorläufer gab es allerdings schon im antiken Griechenland und in der Renaissance, und Parallelen findet man auch in anderen Regionen der Welt). Jetzt gab es zum ersten Mal organisierte Bestrebungen zur Abschaffung sozial geächteter Formen der Gewalt wie Gewaltherrschaft, Sklaverei, Duelle, Folter, Tötung aus Aberglauben, sadistische Bestrafung und Grausamkeit gegenüber Tieren; gleichzeitig regte sich zum ersten Mal der Pazifismus. Diesen Übergang bezeichnen Historiker manchmal als
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