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Gesichter im Nebel (German Edition)

Gesichter im Nebel (German Edition)

Titel: Gesichter im Nebel (German Edition)
Autoren: Joachim Feyerabend
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gewöhnlich allabendlich ein paar verschworene Freunde des Bieres zu ihren Pints „Murphy’s“: der dicke, rotgesichtige Postmaster, der fast spanisch aussehende Shrimpsfischer Captain Prawn, der rotmähnige Lobsterking, dessen geflochtene Hummerkörbe im Südhafen lagen, und der betagte, klapperdürre Declan, ein pensionierter irischer Seemann mit seiner vom Alter dünnen, brüchigen Stimme und seinen wässrigen Äuglein. Angetrunken nervte er die Runde gerne mit alten, oft traurigen Balladen von Liebe und Tod, von Helden und vom Widerstand gegen die Engländer. Dann gaben die Saufkumpane schnell einen aus, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das war schließlich auch der Zweck der Übung, denn Declans magere Altersrente reichte nicht hinten und nicht vorne, eigentlich schon gar nicht für das geliebte Gebräu.
    An diesem Tag im Frühjahr hüllte eine Neumondnacht alles ins Dunkel. Kein tröstendes Blinken der Sterne, kein Lichtschein aus den Gehöften drang durch die Nebeldecke und erleuchtete den schmalen Felspfad, der vom Vier-Häuser-Flecken „Cummer the Lane“ zum Nordhafen hinunterführte, dort im rechten Winkel abknickte und in der Hügellandschaft des Inselchens verschwand.
    Das war für den nächtlichen Wanderer, der auf diesem schwierigen Wegabschnitt trotz der Unbilden des Wetters mit einem Knotenstock in der Hand vorsichtig bergan schritt, auch gar nicht nötig.
    Er war blind.
    Mit seinem langen, wallenden und schlohweißen Haar und Bart erweckte er den Eindruck einer Gestalt aus der keltischen Frühzeit, eines Druiden vielleicht, eines Schamanen und Sehers einer längst versunkenen, wilden Epoche. Seine Gürtelspange mit verschlungenen, gälischen Motiven vervollständigte diesen archaischen Eindruck.
    Der alte Mann kannte jeden Stein, er hörte an seinem Schritt, wo er sich gerade befand und ob er der Felswand oder dem Abgrund zu nahe kam. Er war diesen Weg bereits mehr als tausendmal gegangen, sommers, wenn der wilde und mannshohe Fingerhut oder die hellen Blütenkelche der Honeysuckles an den Hängen wucherten und ebenso wie in den Orkanböen des Winters, wenn die Gischt der tobenden See vom Sturm über das ganze Eiland verweht wurde, die kargen Wiesen noch salziger machte und den das ganze Jahr hindurch dunkelgelb leuchtenden Stechginster beutelte. Außer ein paar Krüppelkiefern in den Senken gab es so gut wie keinen Baumbestand, der stetige Seewind ließ ihn nicht gedeihen.
    Xirian war aufs Alter immer sensibler geworden. Er spürte in der Aura eines anwesenden Menschen, ob dieser gut war oder böse. Die Insulaner hörten voller Respekt auf ihn. Sein Urteilsspruch entschied darüber, ob ein Fremdling angenommen wurde oder nicht, ihn die schweigende Mauer der Ablehnung alsbald wieder vertrieb oder ob er vielleicht sogar Freunde fand, was bei Gott bei diesem verschlossenen Menschenschlag einem kleinen Wunder gleichkam.
    Seit einiger Zeit ängstigte sich Xirian selbst über das, was er zuweilen wahrnahm. Es war ihm dann, als seien Stimmen um ihn, fremde Laute in einer alten Sprache, die er nicht verstand. Es schien ihm manchmal, als berührten ihn undefinierbare Schatten, huschten vorüber oder beobachteten ihn still.
    So auch heute, in dieser Nebelnacht ohne Mond und Sterne.
    „Was wollt ihr von mir?“, fragte er mit seiner festen, rollenden Stimme in die Dunkelheit, die ihn ohnehin stets umgab.
    „Was wollt ihr?“
    Doch, wie immer, er erhielt keine Antwort. „Vielleicht leide ich bereits an Halluzinationen“, dachte der Greis, „bin schon zu alt und übersensibel und dabei ist es nur das Singen meines Blutes in den Ohren, das mich narrt.“ Und unwirsch schüttelte er den Kopf.
    „Was wollt ihr von mir? He!“
    Er fuchtelte mit seinem Stock etwas unsicher durch die Luft.
    „Warum bedrängt ihr mich gerade heute so stark? In Dreiteufelsnamen, ich will es endlich wissen!“
    Doch er erhielt keine Antwort.
    Insgeheim glaubte er zuweilen, seine leisen Begleiter könnten Gestalten aus der alten, keltischen „Anderswelt“ sein. Die Römer und die spätere Christianisierung hatten den Kontakt, die Berührung und das Wissen um sie vergessen lassen. Sie vermochte sich deswegen nicht mehr mitzuteilen. Xirian wusste immerhin, dass die alten Kultstätten nur an Stellen geduldet wurden, an denen ringsum die weitaus geringste radioaktive Erdstrahlung herrscht. Die Altvorderen hatten also einen siebten Sinn. Aber sonst? Was wusste er noch über die alten, mündlichen Überlieferungen, über die
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