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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens
Autoren: Heinrich August Winkler
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barbarischer Brutalität, durch verrückten Hochmut übersteigerter Patriotismus, ein vielschichtiger und mächtiger Mystizismus, wo alles zusammenkommt, um ‹Deutschland über alles› zu erheben». Zwei Jahre später gab Lavisse seiner Hoffnung Ausdruck, die ganze Welt werde anerkennen, daß Frankreich, indem es den barbarischen Ansturm (la ruée barbare) zum Stehen brachte, den gemeinsamen Sieg ermöglicht habe. «Indem es sein Leben verteidigt, wird es die Menschheit von dem verhaßten Joch befreien, mit dem sie eine Macht bedroht, die ihren Hochmut und ihre Begehrlichkeit über die Gerechtigkeit und das Recht stellt» (qui met son orgueil et ses appétits au-dessus de la justice et du droit).
    Ganz ähnlich war der Tenor der 1915 erschienenen Schrift «L’Allemagne au-dessus de tout» (Deutschland über alles) des berühmten Soziologen Émile Durkheim. Heinrich von Treitschkes 1899/1900 posthum veröffentlichte Vorlesungen über «Politik» dienten Durkheim als Schlüssel zum besseren Verständnis eines machtversessenen Pangermanismus, den er als einen Fall von sozialer Pathologie bewertete. Der Berliner Historiker hatte gelehrt, daß der Staat Macht war und die Pflicht hatte, stark zu sein; durch internationale Verträge war er nur unter der «clausula rebus sic stantibus» gebunden, das heißt unter dem Vorbehalt, daß die bei Vertragsabschluß geltenden Bedingungen fortbestanden; es gab für den Staat kein Selbstbestimmungsrecht anderer Völker; die bürgerliche Gesellschaft hatte sich ihm unterzuordnen.
    Für Durkheim war die Mentalität, zu deren Sprecher sich Treitschke machte und die er prägte, ein krankhafter Wille zur Macht. Deutschland habe sich eine Mythologie geschaffen, wonach es allen Völkern überlegen und die «höchste irdische Verkörperung der göttlichen Macht» (la plus haute incarnation de la puissance divine) sei. Doch die Welt zu bezwingen werde Deutschland nicht gelingen. «Deutschland kann seine selbstgewählte Bestimmung nicht erfüllen, ohne die Menschheit an einem Leben in Freiheit zu hindern, doch das Leben läßt sich nicht dauerhaft in Fesseln legen. Man kann es zwar durch einen mechanischen Eingriff eine Zeitlang eindämmen und lahmlegen. Doch zuletzt wird es sich immer seinen Weg bahnen und die Hindernisse wegräumen, die sich seiner freien Entfaltung entgegenstellen.»
    Einer der originellsten Beiträge zur intellektuellen Auseinandersetzung mit Deutschland kam aus den Vereinigten Staaten von Amerika.1915 legte der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Thorstein Veblen, 1857 in Wisconsin als Sohn norwegischer Einwanderer geboren, sein Buch «Germany and the Industrial Revolution» vor. Veblen war einer der wortgewaltigsten Autoren der «Progressive Era»; bekannt gemacht hatte ihn seine 1899 erschienene «Theory of the Leisure Class», eine beißende, weithin satirische Kritik nicht nur der müßigen, dem Luxus frönenden Oberschicht, sondern der Gesellschaft insgesamt. Das Buch von 1915 war einerseits ein sarkastischer Angriff auf das autoritäre und militaristische Preußentum und das von ihm geprägte Deutschland, andererseits eine plakative Verherrlichung der Freiheitsliebe der englischsprechenden Völker. Bei aller polemischen Überspitzung und Verzerrung war Veblens Schrift aber auch eine scharfsinnige und brillante Analyse des «deutschen Sonderwegs» – ein Begriff, der sich freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg einbürgerte.
    Deutschland bot, wenn man Veblen folgte, das paradoxe Beispiel eines Landes, das höchste technische Modernität mit einem extrem rückständigen Regierungssystem verband. Was die Industrialisierung betraf, so war Deutschland in die englische Schule gegangen, aber die freiheitlichen Ideen und Institutionen, die England hervorgebracht hatte, übernahmen die Deutschen nicht. Sie waren das Volk ohne erfolgreiche Revolution, in dem das Mittelalter in Gestalt des ostelbischen Junkertums und seines kriegerischen Feudalismus fortlebte. «Der Fall Deutschlands ist ohne Beispiel unter den westlichen Nationen, sowohl was die Plötzlichkeit, die Gründlichkeit und die Reichweite der Aneignung dieser (der englischen, H. A. W.) Technologie anbelangt, als auch im Hinblick auf den archaischen Charakter seines kulturellen Rüstzeugs zum Zeitpunkt der Aneignung.» Mit Preußen als Führungsmacht verfügte Deutschland über kein anderes Bindemittel als Blut und Eisen und über keine anderen als dynastische Ideale.
    Deutsche und Engländer hatten
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