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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens
Autoren: Heinrich August Winkler
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verlangte bereits Ende August 1914, Rußland müsse auf die Grenzen der Zeit vor Peter dem Großen zurückgeworfen, das Baltikum sowie Teile von Russisch-Polen, Weißrußland und Nordwestrußland deutsch besiedelt werden; die russischen Juden seien nach Palästina auszusiedeln. Der Schwerindustrielle August Thyssen forderte im September 1914 die Einverleibung Belgiens, mehrerer ostfranzösischer Departements und der baltischen Provinzen des Zarenreiches. Um die Rohstoffversorgung für die Zukunft zu sichern, sollte das Deutsche Reich möglichst auch die Krim, die Gebiete um Odessa und Asow sowie den Kaukasus unter seine Kontrolle bringen.
    Im Frühjahr 1915 stellten sich die führenden Wirtschaftsverbändeund zahlreiche deutsche Professoren, Beamten und Künstler, an ihrer Spitze der Berliner Theologe Reinhold Seeberg, ein Baltendeutscher, auf den Boden des alldeutschen Programms. Eine deutlich kleinere Gruppe gemäßigter Intellektueller um den Herausgeber des «Berliner Tageblatts», Theodor Wolff, und den Historiker Hans Delbrück schloß im Juli 1915 die «Einverleibung und Angliederung politisch selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker» im Westen, nicht aber Gebietserweiterungen im Osten aus. Die ausführlichste Darlegung dessen, was die moderaten Imperialisten erstrebten, war ein 1915 erschienenes Buch des linksliberalen Politikers und studierten Theologen Friedrich Naumann mit dem Titel «Mitteleuropa». Der Autor knüpfte an das großdeutsche Erbe der Revolution von 1848 und an das 1806 untergegangene Alte Reich an, als er das Bild eines «im Kern deutschen» Mitteleuropa zeichnete, das sich um das staatenbundartig verbundene deutsch-österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet herum organisieren müsse. In einem waren sich gemäßigte und radikale Imperialisten einig: Der deutsche Kolonialbesitz mußte, vor allem in Mittelafrika, beträchtlich ausgeweitet werden, weil anders der Anspruch Deutschlands, eine Weltmacht zu sein, nicht durchzusetzen war.
    Die deutsche Kriegszieldiskussion ist besser erforscht als die der anderen kriegführenden Mächte, und sie war auch die am weitesten ausgreifende. In Frankreich gab es hinsichtlich
eines
Kriegszieles breite Übereinstimmung: Elsaß und Lothringen, die beiden Ostprovinzen, die Deutschland 1871 annektiert hatte, sollten wieder französisch werden. Ebenso unstrittig war, daß die Souveränität Belgiens wiederhergestellt werden mußte und Frankreich Anspruch auf deutsche Reparationen hatte. Führende Militärs sowie nationalistische Politiker und Intellektuelle gingen über dieses bescheidene Programm hinaus, ebenso das schwerindustrielle Comité des Forges mit seinem Generalsekretär Robert Pinot. Zu den Forderungen dieser Kreise gehörte obenan die Annexion des kohlereichen Saargebietes. Generalstabschef Joffre verlangte 1916 überdies als «Garantien» gegen jede künftige Bedrohung Frankreichs die Abtretung des linken Rheinufers von Deutschland, die Aufteilung dieses Gebiets in mehrere, von Frankreich abhängige Kleinstaaten und die Schaffung französischer Brückenköpfe am rechten Rheinufer. Die radikal nationalistische «Action française» wollte sich mit der Neutralisierung des linksrheinischen Gebiets nicht begnügen, sondern forderte die Annexion durch Frankreich. Sie stieß damit aber,als 1916 erstmals öffentlich über Kriegsziele diskutiert werden durfte, auf vehementen Widerspruch bei den Sozialisten.
    Raymond Poincaré, der Präsident der Republik, teilte die Positionen der nationalistischen Rechten: Wie diese wollte er das Deutsche Reich als einheitlichen Staat zerschlagen. Aus Rücksicht auf die gespaltene öffentliche Meinung und den britischen Verbündeten hielt er sich aber mit Festlegungen zurück. Ministerpräsident Aristide Briand schloß am 10. März 1917, wenige Tage vor der russischen «Februarrevolution», einen Geheimvertrag mit der Regierung des Zarenreiches, in dem er sich die russische Zustimmung zur Annexion des Saargebietes und zur Umwandlung des linksrheinischen Deutschland in einem vom Reich abgetrennten, neutralen Staat sicherte. Rußland sollte dafür sein Gebiet im Westen, auf Kosten Polens und der Mittelmächte, vergrößern dürfen und dabei freie Hand haben, was auch ein Ja zur Annexion Ostpreußens einschloß. Eine andere Zusage hatte die russische Regierung bereits im März 1915 von Frankreich
und
Großbritannien erhalten: Nach der Niederwerfung der Türkei sollten Konstantinopel und die
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