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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Heinrich August Winkler
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die Vertreter des Ersten und des Zweiten Standes auf, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Doch niemand konnte sicher sein, daß Ludwig XVI. wirklich bereit war, die Führung Frankreichs dem Dritten Stand zu überlassen. Am 11. Juli 1789 entließ er Necker und andere Minister, die als reformfreundlich galten. An ihre Stelle traten bekannte Gegner der Forderungen des Dritten Standes. Gleichzeitig wurden vermehrt Truppen nach Versailles gezogen. Die Machtfrage war wieder völlig offen: Frankreich befand sich an einem dramatischen Wendepunkt seiner Geschichte.[ 179 ]
    Eine revolutionäre Zuspitzung der Krise wäre vielleicht zu vermeiden gewesen, hätte sich Ludwig XVI. rechtzeitig selbst an die Spitze der Reformbewegung gestellt und im Namen des Volkes den Kampf gegen die privilegierten Stände aufgenommen. Das war die Linie, für die Turgot den König vergeblich zu gewinnen versucht hatte. In letzter Konsequenz hätte dies freilich die Selbstabschaffung des französischen Absolutismus bedeutet. Denn für eine längere Phase des aufgeklärten Absolutismus war die französische Gesellschaft bereits zu aufgeklärt und die französische Monarchie nicht mehr absolutistisch genug.
    Nach dem Tod Ludwigs XIV. im Jahre 1715 war der Überdruß an der königlichen Autokratie so stark, daß es den privilegierten Ständen nicht schwer fiel, ihrem wichtigsten Vertretungsorgan, den Parlamenten, und damit auch den Provinzen zu vermehrtem Einfluß zu verhelfen. Ihr Recht, königliche Edikte durch Registrierung in Kraft zu setzen, konnte der Monarch zwar durch einen «lit de justice» umgehen: ein Mittel, das Ludwig XVI. zweimal, im März 1776 auf Drängen von Turgot und im Mai 1788 auf Betreiben von Brienne, anwandte. Aber beide Male erwiesen sich die Parlamente als stärker: Im ersten Fall erreichten sie, daß die von ihnen bekämpften Maßnahmen durch die Nachfolger Turgots größtenteils wieder rückgängig gemacht wurden; im zweiten Fall brachten sie die Reformen der Regierung durch schiere Obstruktion um ihre Wirkung. Ludwig XVI. hatte nicht die Kraft, die für eine Konfrontation mit Adel und Kirche nötig gewesen wäre. Die öffentliche Meinung empfand ihn daher immer mehr als den König der Privilegierten, also einer winzigen Mehrheit der Gesellschaft.
    Daß die Privilegien der ersten beiden Stände als überholt, weil durch nichts mehr gerechtfertigt galten, hatten sich Klerus und Adel selbst zuzuschreiben. Die katholische Kirche verdankte ihr religiöses Monopol der französischen Monarchie, die den Protestantismus seit der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685 mit äußerster Härte unterdrückt hatte. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Protestanten, die die Polizei beim Besuch eines heimlichen Gottesdienstes antraf, zu Galeeren- und Zuchthausstrafen verurteilt. Erst seit 1763 hörte die Verfolgung der Protestanten allmählich auf. Es war das Jahr, in dem Voltaire seinen «Traktat über die Toleranz» veröffentlichte: einen flammenden Protest gegen die Hinrichtung des protestantischen Kaufmann Jean Calas. Er war im Jahr zuvor das Opfer eines Justizirrtums des Parlaments von Toulouse geworden.
    Auch in ihren eigenen Reihen war die französische Kirche äußerst unduldsam. Als Hauptgegner innerhalb des Katholizismus galten die Anhänger von Cornelius Jansen (1585–1638), dem Bischof von Ypern, der in einem Werk über Augustinus der göttlichen Gnade eine ähnlich ausschlaggebende Rolle zuerkannt hatte wie Luther und, auf andere Weise, Calvin und darum als Parteigänger des Protestantismus galt. Gegen die umfassende Verurteilung der jansenistischen Lehren durch Papst Clemens XI. in der Bulle «Unigenitus» von 1713 wandten sich neben den Aufklärern, den «philosophes», auch die Parlamente, die hier eine Chance sahen, Einfluß auf die öffentliche Meinung zu gewinnen. Die Unterdrückung des Jansenismus trug mit dazu bei, daß sich im niederen Klerus eine oppositionelle Strömung ausbreitete, die sich gegen die Bischöfe und den sie schützenden Hof, zunehmend aber auch gegen den Papst und die Kurie richtete.
    Äußerlich war die Machtstellung der katholischen Kirche zur Zeit Ludwigs XVI. immer noch eindrucksvoll; sie besaß im Landesdurchschnitt etwa ein Zehntel des französischen Bodens und war damit die mit Abstand größte Grundbesitzerin; sie bezog nach wie vor großzügige Steuereinnahmen in Gestalt des Kirchenzehnten, den Bauern und Landarbeiter zu entrichten hatten. Gleichzeitig
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