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Geschichte des Gens

Geschichte des Gens

Titel: Geschichte des Gens
Autoren: Ernst Peter Fischer
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angepasst haben.
    Mit Darwins Evolution tritt also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben das deterministische eine neue Art von Naturgesetz, nämlich die statistische Art, auf die auch Mendel etwa zur gleichen Zeit stößt, wobei er noch auf eine weitere Komplikation trifft, nämlich die Beobachtung, dass Vererbung nicht kontinuierlich abläuft, sondern diskret (diskontinuierlich) vor sich geht. Dies widersprach dem allgemeinen Vertrauen in Zell- und Lebenssäfte, die auch im medizinischen Denken eine große Rolle spielten. Der feste Glaube, dass die Natur keine Sprünge macht und durchgängig fließend angelegt ist, behauptete lange das Feld. Er wurde durch Beobachtungen von Mischvererbung (blending inheritance) verteidigt - etwa wenn die roten und weißen Blüten der Elternpflanzen bei den Nachkommen rosa wurden - und ließ sich auch nicht erschüttern, als die vermischten Qualitäten eine Generation später wieder einzeln (separiert oder segregiert) auftraten.
    Mendel hatte bei dem Schritt zum Unstetigen wohl deshalb keine Probleme, weil er Physik studiert hatte und mit atomistischen Konzepten vertraut war. Mendels Elemente - unsere heutigen Gene -können als Atome des Organischen verstanden werden, deren Wechselwirkungen das Leben und seine Qualitäten so hervorbringen, wie die Atome eines Gases die Eigenschaften dieser flüchtigen Stoffe bedingen. Mendel setzte seine Kenntnisse als Physiker weiterhin ein, als er von der Gewohnheit seiner Zeitgenossen abwich, die an einer Pflanze viele Eigenschaften studierten. Er tat das Gegenteil und studierte jeweils nur eine Eigenschaft - etwa die Stellung der Blüten, die Form der Hülse oder die Färbung der Samenschale - an vielen Exemplaren. So konnte er die statistischen Gesetzmäßigkeiten entdecken, die heute seinen Namen tragen. In Mendels Originalarbeit findet sich allerdings kein Hinweis auf Erbgesetze. Das Wort »vererben« kommt bei ihm so gut wie nicht vor, wodurch die Frage unvermeidlich wird, was Mendel wollte. Wir wissen, was er gefunden hat. Aber wonach er gesucht hat, ist schwieriger zu sagen.
    Die Nachwelt lernte aus seiner Arbeit, dass die Vorstellung von kontinuierlicher Vererbung nicht zu halten und statt dessen nach den physikalischchemischen Gebilden in der Zelle zu fragen war, die als Träger der Erbanlagen in Frage kamen. Am deutlichsten hat dies der Engländer William Bateson formuliert, der 1902 in einer Art Verteidigungsschrift Mendel's Principles of Heredity gegen die Vertreter der Kontinuitätsthese verteidigte. Bateson forderte auch, Mendels Einsicht ernst zu nehmen, dass es zwei Varianten der Erbfaktoren in jeder Zelle gibt. Bateson nannte das zweite Element nach dem griechischen Wort für »andere« (»allelen«) Allelomorph, was im heutigen Sprachgebrauch zu Allel verkürzt worden ist. Ein Gen gibt es in zwei allelen Formen, eine Zelle verfügt über zwei Allele, die meistens verschieden sind, aber auch gleich sein können. Im ersten Fall - so schlug erneut Bateson vor - sind die Zellen (und damit der aus ihnen bestehende Organismus) heterozygot, und im zweiten Fall sind sie homozygot. Die beiden Nachsilben sind natürlich ebenfalls eine griechische Neubildung. Das Wort »Zygote« führte Bateson für die befruchtete Eizelle ein, weil er sich vorstellte, sie sei wie eine Kutsche »zum Losfahren angespannt«, wie das Wort übersetzt werden kann. Zwar hat Mendel selbst nur mit Erbsen experimentiert, und auch seine Wiederentdecker waren mit der Vererbung von Pflanzen beschäftigt, aber es gab auch Wissenschaftler - wie den britischen Arzt Archibald Garrod -, die sofort erkannten, dass die Erbgesetze auch bei Menschen gültig waren. Garrod hatte sich in den Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert mit Erkrankungen des Stoffwechsels beschäftigt und bemerkt, dass sie in Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Nun glaubte er von den Gesetzen zu lesen, die dahinter steckten, und er interessierte sich sofort für die Elemente, die ihrerseits wiederum dahinter steckten. In ihnen - so vermutete Garrod - muss die wissenschaftliche Basis für das stecken, was er als »chemische Individualität« beziehungsweise als »organische Individualität« bemerkt und bezeichnet hatte: Menschen reagierten individuell verschieden, wenn es etwa um die Anfälligkeit für Infektionen oder um die Wirksamkeit von verfügbaren Medikamenten ging. Diese chemische Individualität müsse in den Genen stecken, und an die gelte es heranzukommen,
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