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Geschichte der deutschen Sprache

Geschichte der deutschen Sprache

Titel: Geschichte der deutschen Sprache
Autoren: Thorsten Roelcke
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an dem althochdeutschen Wort
gast
‹Gast›, dessen Mehrzahl
gēsti
lautet. Sie ist zum Teil aber auch erst in späterer Zeit nachzuweisen, so beispielsweise mit dem mittelhochdeutschen Wort
mære
‹Erzählung›, dessen althochdeutsche Entsprechung noch als
māri
erscheint. Die zeitliche Differenz zwischen diesen und zahlreichen weiteren Fällen gibt Anlass zu der Vermutung, dass es im Deutschen zwei Umlautbewegungen gab, den sog. Primär- und Sekundärumlaut. Jüngere Forschungen haben allerdings ergeben, dass wohl sämtliche Umlautungen bereits auf das frühe Mittelalter zurückgehen, jedoch teilweise erst im 11. oder 12. Jahrhundert schriftlich gekennzeichnet werden.
    Neben den mittelalterlichen Mono- und Diphthongierungen zeigt die deutsche Sprachgeschichte auch solche in der frühen Neuzeit. So besteht die neuhochdeutsche Diphthongierung in einer Verschiebung der langen Vokale
ī
,
ū
und
iu
(gesprochen:
ü
) zu den entsprechenden Doppelvokalen
ai
,
au
und
oe
(gesprochen
eu
). Studierende der Germanistik erinnern sich an diese Entwicklung, die sich vom 12. bis in das 16. Jahrhundert über weite Teile des deutschen Sprachraums ausbreitet, gerne anhand des Beispiels
mîn níuwez hûs
(in mittelhochdeutscher Schreibweise)und dessen neuhochdeutscher Übersetzung:
mein neues Haus
. Auch diese Vokalverdoppelung tritt zusammen mit einer entsprechenden Monophthongierung auf, bei der die Doppelvokale
ie
,
uo
und
üe
zu den einfachen Langvokalen
ī
,
ū
und
y
(gesprochen
ü
) übergehen. Diese Entwicklung reicht ebenfalls von mittelhochdeutscher Zeit bis ins 16. Jahrhundert. Die Merkhilfe heißt hier
lieber müeder bruoder
und ist entsprechend mit
lieber müder Bruder
zu übersetzen. – Am Beispiel von germanisch
brōÞar
, mittelhochdeutsch
bruoder
und neuhochdeutsch
Bruder
zeigt sich dann auch, wie die mittelalterliche und die neuzeitliche Di- bzw. Monophthongierung ineinanderspielen können.
    Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen dem mittel- und dem neuhochdeutschen Selbstlautsystem stellt die Dehnung von kurzen zu langen Vokalen dar. Eine solche Vokaldehnung setzt bereits im 12. Jahrhundert ein und breitet sich über den gesamten deutschen Sprachraum aus. Wir finden sie vor allem in offenen Silben wie zum Beispiel in neuhochdeutsch
sāgen
mit langem
ā
gegenüber mittelhochdeutsch
sagen
mit kurzem
a
. Dehnungen in geschlossenen Silben erfolgen demgegenüber eher selten und bleiben meist mundartlich begrenzt – mit einigen Ausnahmen, wie etwa im Falle von neuhochdeutsch
Tāg
gegenüber mittelhochdeutsch
Tag
. Noch seltener und ebenfalls zumeist regional begrenzt erscheint der umgekehrte Fall einer Kürzung von langen Vokalen. Ein Beispiel, das bis in die neuhochdeutsche Standardsprache vorgedrungen ist, stellt die Verbform
dachte
dar, die letztlich auf die althochdeutsche Form
dāchta
zurückgeht.
    Die hier genannten Erscheinungen stellen nur eine Auswahl an Entwicklungen im deutschen Vokalsystem dar. Weitere Veränderungen wie die sog. Brechung im Mittelalter oder die Rundung bzw. Entrundung in der Neuzeit müssen hier unberücksichtigt bleiben. Und doch gibt es noch eine weitere wichtige lautliche Veränderung im Deutschen, auf die im Rahmen jeder sprachgeschichtlichen Darstellung eingegangen werden muss. Diese Veränderung steht in einem engen Zusammenhang mit dem Akzentwandel des Deutschen gegenüber dem Germanischennischen und betrifft dabei insbesondere die Selbst-, daneben aber auch die Mitlaute und hat darüber hinaus erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Formbildung. Gemeint ist hier die Abschwächung unbetonter Nebensilben .
    Zunächst sei an den Akzentwandel in der Vorgeschichte des Deutschen erinnert: Während die Betonung im Indoeuropäischen auf verschiedenen Silben liegen kann, wird sie bereits im Germanischen auf die Stammsilbe festgelegt. Folglich bleiben diejenigen Silben, die der Stammsilbe vorangehen oder ihr nachfolgen, unbetont. Diese Nebensilben zeigen im Althochdeutschen noch oft volle Vokale, die sich nun in der weiteren Entwicklung immer mehr neutralisieren und auf den Vokal
e
hinauslaufen. Dies wird am Beispiel des althochdeutschen Verbs
haban
deutlich, das zu dieser Zeit bereits auch als
habēn
(mit langem
e
) und im Mittelhochdeutschen dann als
haben
(mit kurzem
e
) erscheint. Diese Form mit abgeschwächter Nebensilbe entspricht auch derjenigen in der deutschen Standardsprache der Gegenwart. Im Bereich der Mundarten und der Umgangssprache ist die
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