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Geschichte der deutschen Sprache

Geschichte der deutschen Sprache

Titel: Geschichte der deutschen Sprache
Autoren: Thorsten Roelcke
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Nebensilbenschwächung zum Teil sogar noch weiter gegangen und hat in diesem Falle mit den Formen
habn
oder
habm
zu einem echten Schwund der Vokale und im Weiteren mit der Form
ham
sogar zu einer Verschmelzung bzw. Verringerung der Mitlaute geführt.
    Dass diese Entwicklung dann auch weit reichende Folgen für die Wort- und Formbildung im Deutschen hat, ist anhand von zwei Beispielen schnell ersichtlich: Zum einen konnten noch im Althochdeutschen aus Adjektiven wie etwa
hreini
‹rein› durch das Anhängen eines langen
ī
entsprechende Substantive gebildet werden, hier also
hreinī
. Durch die Nebensilbenschwächung wurde dieses Verfahren jedoch sehr eingeschränkt, und es kamen neue Wortbildungsmöglichkeiten, wie etwa durch Anhängen von
-heit
,
-keit
oder
-ung
, auf. Und so lautet das entsprechende Substantiv heutzutage nicht etwa *
Reine
, sondern eben
Reinheit
. Ein anderes Beispiel belegt die Auswirkungen der Nebensilbenschwächung auf die Formbildung: Das althochdeutsche Wort für Zunge zeigt in allen vier Fällen (Kasus) der Mehrzahl (Plural) noch volle Nebensilbenvokale, wobei die Formendes Nominativs und des Akkusativs gleich lauten (vgl. die folgende Aufstellung). Im Mittelhochdeutschen ist aus den vollen Nebensilbenvokalen bereits ein einheitliches
e
geworden, sodass die Formen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
   
 
Althochdeutsch
Mittelhochdeutsch
   
   
Nominativ
Zungū n
die
zung en
   
   
Genitiv
Zungō no
der
zung en
   
   
Dativ
zungō m
den
zung en
   
   
Akkusativ
zungū n
die
zung en
   
    Um dennoch eine Kennzeichnung der einzelnen Fälle zu ermöglichen, geht man bereits in alt- und verstärkt dann in mittelhochdeutscher Zeit zu einem ergänzenden Gebrauch entsprechender Demonstrativpronomen über, die sich im weiteren Verlauf zu einer neuen Wortart im Deutschen, dem Artikel, weiterentwickeln. An diesem Beispiel zeigt sich schließlich auch, dass die Nebensilbenschwächung nicht nur die Wort- und Formbildung im Deutschen beeinflusst, sondern sogar Auswirkungen im Bereich des Satzbaus zeigt, indem diese über die Grenzen einzelner Wörter hinausgehen.
2.3 Standardaussprache – Aussprachestandard
    Viele der hier behandelten lautlichen Entwicklungen beschränken sich auf bestimmte Regionen des deutschen Sprachgebiets und tragen so zu dessen mundartlicher Differenzierung bei. Betrachtet man jedoch die deutsche Gegenwartssprache, so stellt man unschwer fest, dass es hier neben all den Dialekten so etwas wie eine überregional gültige und dabei einheitliche Lautung oder Aussprache gibt. Und so stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie es im Laufe der Sprachgeschichte zu einer solchen standardisierten Aussprache gekommen ist.
    Erste Ansätze zu einer überregionalen Literatursprache und damit auch zu einer überregional gültigen Lautung finden sich bereits in der mittelhochdeutschen Dichtung um 1200, die nurselten gelesen, sondern in der Regel vorgetragen und gehört wurde. So zogen die Dichter des Mittelalters (wie zum Beispiel Hartmann von Aue oder Walther von der Vogelweide) von Hof zu Hof und hatten ein lebhaftes Interesse daran, von allen Zuhörern (und nicht nur von denen aus einer bestimmten Region) gut verstanden zu werden. Aus diesem Streben heraus entwickelt sich die mittelhochdeutsche Dichtersprache , bei der die oberdeutschen Mundarten insofern eine Vorbildfunktion einnehmen, als mundartliche Besonderheiten, die hiervon abweichen, vermieden werden. – Viele Textausgaben mittelhochdeutscher Literatur weisen indessen eine vereinheitlichte Lautung (bzw. Schreibung) auf, die weit über diesen überregionalen Ausgleich des Hochmittelalters hinausgeht (vgl. hierzu unten).
    Die mittelhochdeutsche Dichtersprache verliert sich indessen aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse im späten Mittelalter und hat für die lautlichen Gegebenheiten der Gegenwartssprache kaum eine Bedeutung. Dieses Schicksal teilt sie mit einer anderen, darauf folgenden lautlichen Vereinheitlichung, die jedoch nicht dem Bereich der Dichtung, sondern dem der Wirtschaft und Verwaltung zuzuschreiben ist. Dabei handelt es sich um die Ostmitteldeutsche Verkehrssprache im späten Mittelalter, die aufgrund ihrer räumlichen Lage so etwas wie eine Vermittlerrolle zwischen den südlichen und nördlichen Landesteilen spielt. Diese frühe mündliche Fachsprache ist jedoch kaum schriftlich überliefert, sodass deren Einfluss auf den Schriftverkehr an den Kanzleien
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