Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band

Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band

Titel: Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Strugatzki , Arkadi Strugatzki
Vom Netzwerk:
und darüber, wie die Welt eingerichtet ist, niemals nachdenken. Einer – ein Tierarzthelfer – hat eine Ahnung, aber eine ziemlich blasse. Einen Unterschied zwischen Sternen und Planeten gibt es für ihn nicht. Einer – ein Hirte – ist überzeugt, dass die Erde flach sei. Die Sonne kreist um die Erde, und auf dem Mond sitzt ein nackter Schafhirte. Von den Sputniks und vom Flug um den Mond weiß er nichts. Und das 52 km von Kislowodsk entfernt. 21
    Ich weiß noch, wie mich damals besonders frappierte, dass sie alle junge Burschen waren, zehn Jahre Schule und den Wehrdienst hinter sich hatten. Wie? Wie hatten sie es fertiggebracht, sich eine derart urtümliche Unbelecktheit in den einfachsten weltanschaulichen Fragen zu bewahren? Wie war es gekommen, dass die gewaltige Maschinerie der Volksbildung und erst recht die Maschine der Rundfunk-Zeitungs-Fernseh-Propaganda über ihren Köpfen leerlief?
    Der zweite Ausschnitt ist eine Notiz, die ich machte, unmittelbar nachdem unsere Gruppe dank der verzweifelten Meisterschaft unseres Fahrers Jura Warowenko und dem wahrhaft bolschewistischen Elan unseres Leiters Viktor Borissowitsch Nowopaschonny (genannt »Feldmarschall«) über nie befahrene Bergstraßen auf einen düsteren Berg mit flachem Gipfel und dem bezeichnenden Namen Kinshal 22 (reichlich 4000 Meter über dem Meeresspiegel) vorgedrungen war.
    Nachts ist der Kinshal schön. Oben der Mond, unten die Wolken, unter den Wolken Finsternis. Am Tag – Muhammed. Erzählt von »Punkten«, wo ein Mensch nicht schlafen kann – »er fängt an zu gären«, ihm widerfährt ein »Werk« – Geister, Schaitane. Ich habe es geglaubt (vielleicht Gase?), aber fünf Minuten später sagt er, dass Riesenschlangen Ohren haben »wie Ratte«. Ich zucke in Gedanken mit den Schultern.
    Wir fuhren zurück und gerieten einem Parteigenazwale in die Fänge (Instrukteur der KPdSU beim Ministerrat von Dagestan). 23 Sie verlangten unsere Papiere. Blick auf das Foto, Blick auf den Feldmarschall. Fragen: »Und wer ist der Direktor in Pulkowo? Und wer ist der Chef des 2. kabardinischen Stabs? Und wer ist dort der Parteiorganisator? Es kann nicht sein, dass ihr auf den Kinshal gefahren seid. Das ist nicht wahr …« Das war im Grunde der Hauptanklagepunkt: Auf den Kinshal kann man nicht fahren, also lügen die. Die örtliche Macht – ein Mann mit silberner Kinnlade und dem Gesicht eines Japaners, im Uniformkittel. Auf dem Tisch »Kasbek« (uns bietet er keine an), ein Rundfunkempfänger, irgendwelche Listen. Dann haben sie sich entschuldigt (»Sie müssen verstehen, dass Sie in der Sowjetunion leben … zu diesem Zeitpunkt …«), haben uns Milch-Kwass und Fladen gegeben – wir haben stolz abgelehnt …
    Ja, Arkadi und ich wussten sehr wohl, dass wir eben in der Sowjetunion lebten und gerade »zu diesem Zeitpunkt«, aber der Gedanke, eine Utopie zu schreiben – einerseits durchaus à la Jefremow, aber zugleich als Gegenentwurf zu der geometrisch-kalten, perfekten Jefremow’schen Welt –, dieser Gedanke ergab sich für uns trotzdem ganz natürlich. Es erschien uns außerordentlich verlockend und wohl sogar notwendig, eine Welt darzustellen, in der zu leben angenehm und interessant wäre – nicht für irgendwen, sondern just für uns Heutige, herausgegriffen aus dieser Sowjetunion und aus »diesem Zeitpunkt«.
    Wir hatten uns damals noch nicht klargemacht, dass nur drei literarisch-künstlerische Konzeptionen der Zukunft möglich sind: eine Zukunft, in der man leben möchte; eine Zukunft, in der man nicht leben kann; und eine Zukunft, die dem Verständnis nicht zugänglich ist, die also jenseits der heutigen Moral liegt.
    Wir hatten jedoch erkannt, dass Jefremow eine Welt geschaffen hatte, in der spezifische Menschen lebten und agierten, Menschen, wie es sie noch nicht gab und zu denen wir (vielleicht) in vielen, vielen Jahrhunderten werden sollten; also waren das überhaupt keine Menschen, sondern Modelle von Menschen, ideale Schemata, bestenfalls Vorbilder, denen man nacheifern konnte. Uns war völlig klar, dass Jefremow eigentlich eine klassische Utopie geschaffen hatte – die Welt, wie sie sein soll . (Das ist eine besondere Konzeption der Zukunft, die außerhalb der belletristischen Literatur liegt, im Bereich von Philosophie, Soziologie und wissenschaftlicher Ethik – schon kein Roman mehr, sondern eher ein Traktat mit belletristischen Ansätzen.)
    Wir aber wollten etwas ganz anderes; wir versuchten keineswegs, die Grenzen der

Weitere Kostenlose Bücher