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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke
Autoren: Robert Musil
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Nation und so weiter. Eine Utopie ist aber kein Ziel, sondern eine Richtung. Aber alle Erzählungen fingieren, daß es etwas gibt, das gewesen oder gegenwärtig ist, wenn auch an einem unwirklichen Ort.
    Es muß gesagt werden: Ulrich hatte keine Sympathie für die guten Menschen. Gründe: sie sind unwahr, Literaten, man findet sie nicht, sie sind tot, bewegungslos, sie verbalhornen den seltenen Fall der großen Güte — —
    Man hat nur die Wahl: diese niederträchtige Zeit mitzumachen (mit den Wölfen zu heulen) oder Neurotiker zu werden. Ulrich geht den zweiten Weg.
    Tempo: Instinktiv liebt Ulrich das Tempo, dieses Zeichen der kommenden Zeit. Vierzehn Tage verlumpen, vierzehn Tage rasende Arbeit, acht Tage rasender Sport. Alles abgeblendet wie eine Autolaterne.
    Wenn Ulrich zur Zeit gelebt hätte, wo die deutsche Nation durch Reformation und Gegenreformation gespalten wurde, so wäre er gewiß weder Katholik noch Protestant gewesen.
    Wie denkt er sich den Dichter? Jedenfalls nicht aus der Intuition heraus schaffend. Dem in der Eingebung die Gedanken wachsen wie Haare oder Blätter. Sondern aus dem Wissen der Zeit heraus und aus ihren Interessen. Bloß rascher als sie, im Tempo ihr so weit voraus, daß er sich im Gegensatz zu ihr fühlt. Ihr besseres Ich, der Anwalt der Zeit gegen die Zeit. Ihre Privatgefühle entwickeln sich planlos, anarchisch, Aus den Schieberinteressen heraus. Ihre offiziellen Gefühle sind weit hinter ihren Gedanken und Interessen zurück. Der Dichter muß aus dem Schieberkreis so viel annehmen wie die Hochsprache aus dem Argot, wenn sie leben bleiben will. Er muß es aber mit der Mathematik in Einklang setzen. Ulrich will kein Dichter sein, sondern ein Essayist.
    Aus den Vorstellungen Ulrichs: es gibt Weltsprachen und Dialekte. Von den Dialekten muß man einen Abguß im Geist nehmen und sie dann weglegen. In weiterer Ferne liegt der Prozeß der Schaffung eines Hochwelt oder Hochirdisch. Nicht ausgeschlossen, den größten Teil der Feinheiten aller Sprachen darin unterzubringen. Auch muß das keine starre Sprache sein, sondern kann aus Weltdialekten, ja sogar aus den Lokaldialekten bereichert werden. Sprachakademie, Schriftstellerkonvent und so weiter. – Mit einer Menschheit, in der sich nicht einmal die Sozialisten einigen können, geht es natürlich nicht. Und damit gibt er sich zufrieden.
    Ulrich muß sein oder werden: Gegner des Patriotismus (Regionalismus –––––). Die Landesgrenze als Moralgrenze anzusehn, liegt dem Deutschen nicht sehr; das macht seine Schwäche und gibt der patriotischen Moral eine gewisse Berechtigung. Richtiger wäre aber doch, das Prinzip zum Rang einer europäischen Angelegenheit zu erheben. Ulrich kann nicht alles machen; das zum Beispiel allein wäre der Inhalt einer Lebensarbeit; es scheint ihm aber für eine bestimmte Art Mensch einfach eine Selbstverständlichkeit zu sein: so sind diese Menschen, die als Geistesrasse unter den Zeitgenossen herumgehen, ohne irgendwo Hand anzulegen.
    Um Ulrich «sympathisch» zu machen, muß er Repräsentant der Zeit sein.
    [◁]
3
    [Zum Anfang]
    [Abgebrochener Entwurf zu einem Vorwort]
    Die Geschichten, die heute geschrieben werden, sind alle sehr schön, bedeutend, tief und nützlich, temperamentvoll oder abgeklärt. Aber sie haben keine Einleitungen.
    Darum habe ich beschlossen, diese Geschichte so zu schreiben, daß sie trotz ihrer Länge eine Einleitung braucht.
    Man sagt, daß eine Geschichte nur dann eine Einleitung brauche, wenn der Dichter mit ihrer. Gestaltung nicht zu Rande gekommen sei. Ausgezeichnet! Der Fortschritt der Literatur, der sich heute in dem Fehlen von Einleitungen ausdrückt, beweist, daß die Dichter ihrer Themen und ihres Publikums sehr sicher sind. Denn natürlich gehört dazu auch das Publikum; der Dichter muß den Mund auftun, und das Publikum muß schon wissen, was er sagen will; sagt er es dann ein wenig anders und überraschend, so hat er sich als neu (schöpferisch) legitimiert. Im allgemeinen herrscht heute also ein gutes Einvernehmen zwischen Autoren und Publikum, und das Bedürfnis nach einer Einleitung zeigt einen Ausnahmefall an. (Eine kleine Variation. Ich möchte aber ja nicht so verstanden werden, als ob sich meiner Ansicht nach in der Größe der Abweichung die Größe des Genies ausdrückte. Im Gegenteil — —).
    Wir wollen aber nicht übersehn, daß sich in dem Abfassen von Einleitungen auch ein zu gutes Verhältnis zum Publikum ausdrücken kann; historisch betrachtet ist
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