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Gesammelte Werke 1

Titel: Gesammelte Werke 1
Autoren: Strugatzki Boris
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und andere zu belügen? Darf er auf die Gelegenheit verzichten, gegenüber denen, die ihm glauben und ihm aufmerksam zuhören, den wahren Stand der Dinge wenigstens anzudeuten?

    »Das Märchen von der Troika«, 1968 erschienen, formal eine Fortsetzung zu »Der Montag fängt am Samstag an«, zeigt sich als unerwartet harte Satire, die die verknöcherte Sowjetbürokratie entlarvt, ja beinahe direkt Breschnew und seine Umgebung parodiert. »Die bewohnte Insel« aus dem Jahre 1969 schildert eine Welt, in der die Bevölkerung eines feudal-faschistischen Staates durch eine besondere Strahlung in einen zombiehaften Zustand versetzt wird (ist das nicht die reinste Allegorie auf das Propagandafernsehen?), während eine Minderheit, die auf die Strahlung nicht anspricht, teils das Land regiert, teils brutal verfolgt wird - mitsamt den Arbeitslagern und den todgeweihten Strafbataillonen …
    Das System lief gegen die neuen Bücher der Strugatzkis Sturm. Ihre Texte wurden von der Zensur verstümmelt, man verlangte von ihnen, die Romane von noch so kleinen Anspielungen an die UdSSR zu säubern, man mäkelte an den Handlungsorten, den Namen fiktiver Organisationen herum, man änderte den Handlungsverlauf. Das Redaktionskollegium der Zeitschrift Angara , die es als erste gewagt hatte, »Das Märchen von der Troika« zu drucken, wurde kollektiv entlassen, der Roman bis zur Perestroika nicht mehr gedruckt. Und das spätere Kultbuch »Picknick am Wegesrand«, nach dem Andrej Tarkowski seinen Film Stalker drehte, wartete ganze elf Jahre auf die Veröffentlichung.
    Doch selbst in der von der Zensur kastrierten Form blieben die Romane der Brüder Strugatzki schärfer als alle - zumindest als die meisten - anderen Texte, deren Veröffentlichung erlaubt wurde. Jedes neue Buch traf zielsicher wieder einen Nerv der Gesellschaft und des Systems, rief in den Küchen von Millionen Wohnungen stürmische Diskussionen hervor, führte zu wütenden Verrissen in der staatlichen Presse. Allen war klar, dass sich in den Texten der Strugatzkis - ganz nach Puschkins Wort, wonach das Märchen Lüge ist, aber eine nützliche Lehre enthält - hinter den Abenteuern der Helden
noch andere Bedeutungsschichten verbargen, dass ihre scheinbar phantastischen Romane mehr Wahrheit über das Leben in der Sowjetgesellschaft enthielten als Zeitungsartikel und Fernsehreportagen. Die Romane von Arkadi und Boris Strugatzki lösten Diskussionen in einem Land aus, in dem es keine geteilten Meinungen geben durfte, und es ist keine Übertreibung, wenn man ihren Einfluss auf das Denken der Menschen mit dem Einfluss solcher Titanen wie Alexander Solschenizyn gleichsetzt. Mit einem entscheidenden Unterschied: Während die Texte Solschenizyns über Jahrzehnte einem engen Kreis von dissidierenden Wagehälsen vorbehalten blieben, die einander handgefertigte Abschriften übergaben, erschienen und verkauften sich die Bücher der Strugatzkis weiterhin in atemberaubend hohen Auflagen. Denn sie gerieten nie ins Moralisieren, in trockene Didaktik, sie lehrten nicht, wie man leben, was man tun sollte, sie schnitten nur auf elegante Weise Themen an, die als tabu galten, zeigten, dass auch in einem Land, in dem man an nichts zweifeln darf, Zweifel unerlässlich ist. Jeder denkende Mensch in unserem Land mit seinem komplizierten Schicksal, mit dem ewigen Konflikt zwischen Individuum und System, zwischen Volk und Staat - und erst recht ein Mensch, der Macht über das Denken anderer hat - muss zweifeln. Er muss für die Freiheit einstehen, muss mutig genug sein, eine eigene Meinung zu haben und sie zu vertreten.
    Es ist bemerkenswert, dass Boris Strugatzki 2009 - Arkadi, der ältere Bruder, starb 1991 - einen Briefwechsel mit dem Häftling Michail Chodorkowski begann, einst der an Geld und Einfluss reichste Geschäftsmann Russlands und nun der einzige - oder zumindest der bedeutendste - politische Gefangene. Chodorkowski, der nach offiziellen Angaben für Steuervergehen im Gefängnis sitzt, tatsächlich aber, weil er sich Wladimir Putin entgegenstellte, ist nach wie vor eine Schlüsselfigur der schwächlichen russischen Opposition. Der
Briefwechsel beginnt mit einer Prognose der Zukunft der Menschheit - Chodorkowski, den ehemaligen Erdölmagnaten, interessiert die Ansicht des Science-Fiction-Autors zu Energieversorgung, den begrenzten Ressourcen des Planeten und den Möglichkeiten neuer globaler Konflikte - und kommt dann zwangsläufig zum Zustand der gegenwärtigen russischen Gesellschaft.
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