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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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spornte daher den friedlichen Bruno, der aus diesem Benehmen gar nicht klug werden konnte, bis aufs Blut. Trotz seines Widerwillens gegen die Eisenbahn und alle modernen Erfindungen wäre der alte Edelmann gerne schon in seinem Zuge und auf dem Wege nach Paris gewesen.
    »In diesem Augenblick gibt es Leute auf der Welt,« dachte er bei sich, »welche das Recht haben, die Seigneulles einer unehrenhaften Handlung zu beschuldigen. Ihr bis dahin reines, azurfarbenes Wappenschild zeigt nun einen schmachvollen schwarzen Flecken.« Dieser Gedanke genügte, ihm die Schamröte auf die Stirne zu treiben. Er fühlte, daß er nicht eher Ruhe finden würde, als bis dieser Flecken ausgelöscht wäre. Wie er dies anfangen wollte, wußte er noch nicht, und er wagte es kaum, diesen wunden Punkt näher ins Auge zu fassen. Während er den Zwang verwünschte, den ihm die Thorheit seines Sohnes aufgedrungen hatte, sagte er sich: »Vor allem muß ich dieses unselige Geschöpf einmal sehen. Was für eine Art Mädchen mag sie sein? Gott allein weiß es! Irgend eine Abenteurerin mit verführerischen Augen und herausforderndem, bezauberndem Wesen. Wenn Gérard wenigstens irgend ein armes, schüchternes und zurückhaltendes Mädchen bloßgestellt hätte, aber nun muß ich mit so einer Pariser Sirene ohne Grundsätze und ohne Erziehung zusammentreffen ... Zum Henker auch!« Er verachtete Helene von ganzem Herzen, er grollte ihr, daß sie nach Juvigny, gekommen war, um seine Pläne zu vereiteln und die Zukunft seines Sohnes zu verderben. Und doch konnte er durch einen seltsamen Widerspruch nicht ohne Entrüstung daran denken, daß dieses achtzehnjährige Mädchen durch Gérards Schuld zu Grunde gerichtet worden war. Adelsstolz, Ehrgefühl und väterlicher Egoismus kämpftenheftig in dieser zwar beschränkten, aber ehrenhaften Seele. – »Ich werde keine Ruhe haben, ehe ich sie gesehen habe!« rief er querfeldein; »verfluchter Weg! will er denn gar kein Ende nehmen!«
    Nichtsdestoweniger verminderte sich die Entfernung nach und nach; von der Höhe eines Abhanges herab sah Herr von Seigneulles das Bahnhofsgebäude und vernahm den Pfiff einer Lokomotive. Er fürchtete, der Zug fahre ohne ihn ab, gab dem Pferd beide Sporen und ritt in toller Eile bergab. Unglücklicherweise entsprachen Brunos Kräfte nicht der Ungeduld seines Herrn; an einer Biegung stolperte das Pferd und stürzte, und der hitzige Edelmann wurde gegen einen Steinhaufen geschleudert. Bauern, die ein benachbartes Feld bestellten, kamen herbeigelaufen. Herr von Seigneulles, der sich nicht auf den Füßen halten konnte, wurde mit zerschundenem Gesicht aufgehoben und in die einzige Herberge des nahen Dorfes gebracht, wohin ihm auch sein an den Knieen verletztes, lahmendes Pferd folgte. Dann wurde der Bahnarzt gerufen.
    Herr von Seigneulles hatte heftige Schmerzen am Bein und biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, während man ihn entkleidete, aber der physische Schmerz war nichts im Vergleich zu der psychischen Gereiztheit, die er empfand, wenn er an die durch den unglücklichen Fall verursachte Verzögerung dachte. Nachdem er den Kranken gründlich untersucht hatte, erklärte der Arzt, daß er nichts gebrochen habe. Nur das Bein war stark gequetscht und schwoll zusehends an. »Es hat nichts auf sich,« sagte er, »trinken Sie Arnika und setzen Sie sich zehn Blutegel oberhalb des Kniees und alles geht gut.«
    »Und ich werde morgen weiterreisen können?« rief Herr von Seigneulles.
    »Das nicht, aber in vier Tagen, wenn Sie folgsam sind... Zehn Blutegel, haben Sie gehört?«
    »Vier Tage,« zürnte der Chevalier, sobald der Arztgegangen war, »das ist unmöglich; dieser Tölpel will meinen Tod.« Dann setzte er sich auf und befahl, man solle ihm auf der Stelle vierzig Blutegel holen.
    »Ich bitte um Vergebung,« wendete die Wirtin ein, »der Arzt hat gesagt zehn ...«
    »Der Arzt ist ein Esel,« erwiderte herrisch Herr von Seigneulles, »gehorchen Sie!«
    Als die Blutegel gebracht morden waren, schickte er alles hinaus und begann, sich nacheinander die vierzig Blutegel über dem Knie zu setzen. In seiner Eigenschaft als Soldat glaubte Herr von Seigneulles nur an Pferdekuren, und er war in aller Stille zu der wunderbaren Schlußfolgerung gelangt: ›Wenn ich mit zehn Blutegeln in vier Tagen gesund werde, so kann ich morgen wieder auf den Beinen sein, wenn ich die Dosis vervierfache.‹ Das nannte er eine energische Behandlung der Sache; sehr energisch in der That, denn nach
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