Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Titel: Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
Autoren: Reclam
Vom Netzwerk:
reale Menschen) einfach da, sondern sie sind
zu etwas da
. Sie erfüllen eine Funktion, auch wenn sie in dieser Funktion nicht aufgehen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass alle Handlungen und Äußerungen einer Bühnenfigur prinzipiell bedeutsam sind. Auch das unterscheidet sie von realen Menschen. Insofern gestattet der Autor dem Zuschauer oder Leser nur einen begrenzten Einblick in die Bühnenfiguren. Daraus leitet sich die Frage ab: Warum erlebe ich gerade diesen Moment, warum werde ich gerade mit dieser Handlung, dieser Äußerung, dieser Geste konfrontiert? Was hat dieser Moment zu bedeuten? Welchen Aufschluss bietet er für das Verständnis des Ganzen, des Theaterstücks? Wenn wir literarische Werke interpretieren, geht es um solche Fragen. Wir nehmen die Figuren, die wir auf der Bühne kennen lernen, immer mit Bezug auf das Geschehen wahr, in das sie verwickelt sind. Wenn wir reale Menschen kennen lernen, liegt uns eine solche Wahrnehmung fern.
    Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für die Beschreibung der Personen im
Woyzeck
? Zunächst schärfen sie unsere Wahrnehmung für die Abstufungen in der Konstruiertheit von Bühnenfiguren. So fällt uns auf, dass Georg Büchner sich offenbar Mühe gegeben hat, seine Hauptfigur Franz Woyzeck so zu charakterisieren, dass sie als Mensch aus Fleisch und Blut vor uns steht, während dem Hauptmann etwas Schablonenartiges anhaftet. Woyzeck, kann man sagen, ist ein mehrdimensionaler oder runder Charakter, der Hauptmann ein eindimensionaler oder flacher. Warum ist das so?
    Zweitens scheint es richtig, nicht einfach nur zu fragen, wie die Personen sind, sondern darüber hinaus, welche Funktion ihnen zukommt, indem sie so sind, wie sie sind. Unsere Erwartung ist, dass die Beantwortung dieser weitergehenden Frage bei den schablonenhaften Charakteren leichter fällt als bei den komplexen, deren Aufgabe innerhalb des Stückes weniger offen zutage liegt.
    Franz Woyzeck. Die Hauptfigur trägt den Namen einer realen Person, des Leipziger Perückenmachers und Soldaten Johann Christian Woyzeck, der 1780 geboren und 1824 als Mörder hingerichtet wurde (vgl. 1. Erstinformation zum Werk ). Franz Woyzeck ist kein genaues Abbild dieses Johann Christian Woyzeck. Jedoch hat Georg Büchner aus den gerichtsmedizinischen Gutachten über den historischen Woyzeck zahlreiche Züge auf seine Bühnenfigur übertragen (vgl. 6. Interpretation ).
    Ausgehend von diesen Gutachten zeigt Büchner Woyzeck als einen unter einer Psychose leidenden Menschen. Der aus dem Lateinischen kommende Fachbegriff Psychose bedeutet »seelische Störung« oder »Geisteskrankheit«. Eine Psychose entwickelt sich zumeist aus einem Bündel von Ursachen: körperlichen Erkrankungen, sozialem Druck oder seelischen Belastungen. Sie führt dazu, dass der Erkrankte zeitweise oder dauerhaft Realitätsverluste erleidet, dass sich seine Wahrnehmungen verzerren, dass er für sein Handeln nicht mehr eintreten und folglich auch nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden kann. An Woyzeck schildert Georg Büchner die Symptome der Psychose, an Woyzecks Interaktion mit seiner Umwelt legt er die Ursachen der Psychose offen und an Woyzecks Tat deren Folgen.
    Maries Untreue ist nicht der Auslöser von Woyzecks seelischer Störung. Sie bewirkt nur, dass Woyzecks letzte Bindung, die ihn entlang des Abgrundes ein mühsames Gleichgewicht bewahren ließ, wegfällt. Schon in der ersten Szene durchleidet Woyzeck geradezu einen psychotischen Schub: Seine Wahnvorstellungen gaukeln ihm (in Vorwegnahme seines eigenen Schicksals) das freie Feld als Richtplatz und Schädelstätte vor, in seinem Verfolgungswahn fühlt er sich von den Freimaurern bedroht, er halluziniert ein göttliches Strafgericht mit Feuer und Posaunen am Himmel. Seinen Kameraden Andres versetzt er mit seinem Verhalten in Angst und Schrecken. Auch Marie »schauert« es, als Woyzeck kurz darauf bei ihr hereinschaut und vertraulich und geheimnisvoll von seinen wahnhaften Beobachtungen berichtet. Sie hält es nicht aus. Dass sie sich dem Tambourmajor zuwendet, der gerade einen starken Eindruck auf sie gemacht hat, ist insofern wesentlich eine Folge von Woyzecks seelischer Störung. Sie signalisiert dem anderen Mann in derselben Jahrmarktszene ihr Interesse, in der Woyzeck für einen Moment wie befreit wirkt: Das kindlichbunte Treiben, inmitten dessen der Ausrufer seine Späße mit den gesellschaftlichen Institutionen und Glaubenssätzen treibt, durch die Woyzeck im Alltag
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher