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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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den Eltern geerbte genetische Code, der sich aus der DNA -Sequenz ergibt, sei entscheidend. Nach der embryonalen Phase werde die Methylierung in den ausgereiften Körperzellen nicht mehr verändert.
    Szyf freilich hörte nicht auf, dieses Dogma in Frage zu stellen – und fand in seiner Zufallsbekanntschaft Michael Meaney in Madrid einen gefesselten Zuhörer. War die Methylierung der geheimnisvolle Mechanismus, der die mütterliche Fürsorge und die Stressresistenz auf die Rattenbabys übertrug? Meaney und Szyf vereinbarten eine Zusammenarbeit.
    Zurück in Montreal, kamen sie schnell überein, die Stressantwort des Körpers näher zu untersuchen. Wenn ein Mensch oder ein Versuchstier eine Bedrohung spürt, dann verständigen bestimmte Teile des Gehirns den Hypothalamus, eine mandelförmige Struktur tief im Denkorgan. Der Hypothalamus sendet über die Hypophyse chemische Signale an die Nebennieren, die daraufhin Stresshormone (Glucocorticoide) ausschütten: Das schärft die Sinne, wir können angemessen auf die Gefahr reagieren.
    Die Stresshormone wirken aber auch zurück auf das Gehirn. Sie binden sich dort an bestimmte Andockstellen (Rezeptoren) und bremsen auf diese Weise die Aktivität des Hypothalamus. Diese Rückkoppelung ist gut und wichtig, weil sie den Körper vor einer zu langen Stressantwort bewahrt.
    In den von lieblosen Ratten aufgezogenen Babys schien diese Rückkoppelung nicht mehr recht zu funktionieren: Ihr Hypothalamus lässt sich nicht bremsen und pumpt unermüdlich weiter Signale für Stresshormone in den Körper. Kein Wunder, dass die Tiere so ängstlich und schreckhaft sind.
    Meaney und Szyf fragten sich, ob die gestörte Stressantwort vielleicht mit den Andockstellen (den Stresshormon-Rezeptoren) im Gehirn zu tun hatte. Aus diesem Grund untersuchten sie das Gen für den Rezeptor – und fanden daran tatsächlich veränderte Methylierungen.
    In den Hirnzellen der Kuschel-Ratten war das Gen für den Stresshormon-Rezeptor aktiv. Es wurden deshalb viele Rezeptoren hergestellt, die Rückkoppelung funktionierte reibungslos, die Stressantwort konnte gedämpft werden.
    Abbildung  1 :
    Epigenetischer Schalter
    Bei Kindern von kaltherzigen Müttern war es umgekehrt. Ihr Gen für den Stresshormon-Rezeptor war methyliert und damit ausgeschaltet. Es fehlten Rezeptoren, die Rückkoppelung war gestört, die Stressantwort konnte nicht abgebaut werden. Die verstärkte Methylierung des Rezeptor-Gens im Gehirn ist wie eine molekulare Narbe und macht ihre Träger anfällig für Stress.
    »Das bedeutet«, sagt Michael Meaney, »diese Zellen können sich in einer Art und Weise verändern, die niemand vorhergesehen hat.«
    Neben der Methylierung haben die Forscher eine weitere epigenetische Veränderung entdeckt, und zwar das Anhängen und Entfernen von Acetylgruppen. Diese Art der Modifikation hat mit der Verpackung des genetischen Materials zu tun: Die DNA in jeder Zelle unseres Körpers gleicht einer zwei Meter langen Schnur. Damit die DNA -Fäden überhaupt in den Zellkern passen, sind sie um winzig kleine Verpackungsproteine (Histone) gewickelt. Je dichter ein bestimmter DNA -Abschnitt eingepackt ist, desto schlechter können die auf diesem Abschnitt liegenden Gene abgelesen werden. Das Anhängen von Acetylgruppen ist nun ein Mechanismus, der die Verpackung der DNA lockert, so dass die Gene besser abgelesen werden können. [16]
    Abbildung  2
    Zuwendung steuert die Gene
    Genau das haben die Forscher bei Kuschel-Ratten gefunden. In den Kernen ihrer Nervenzellen ist ein bestimmtes Verpackungsprotein verstärkt acetyliert – wodurch das Gen für den Stresshormon-Rezeptor besonders gut abgelesen werden kann und viele Rezeptoren für die heilsame Rückkoppelung entstehen.
    Soziale Vernachlässigung verändert jedoch nicht nur das Gen für den Stresshormon-Rezeptor. Nein, auch an vielen anderen Stellen im Erbgut bleiben biologische Spuren zurück. Eine davon haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München entdeckt, nachdem sie Mäusebabys nach der Geburt vorübergehend von den Müttern getrennt hatten. [17] Der Schock veränderte dauerhaft das Verhalten der Tiere, wie die Forscher in Tests erkannten: Die betroffenen Mäuse gehen nicht gut mit anstrengenden Situationen um, sie sind ohne Antrieb und haben ein schlechteres Gedächtnis als normale Artgenossen.
    Die Erfahrung, von der Mutter getrennt zu werden, hatte dem Erbgut der Kinder einen Stempel aufgedrückt, der auch ein Jahr
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