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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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Neurowissenschaftler Michael Meaney und der Pharmakologe Moshe Szyf von der örtlichen McGill University gemeldet, weil sie Kontakt zu Familien der Selbstmörder aufnehmen wollten. Ihrer Bitte wurde entsprochen, und so bekamen die Hinterbliebenen folgendes Anliegen zu hören:
    Meaney und Szyf wollten aus den eingelagerten Gehirnen jeweils ein paar Gramm Gewebe aus dem Hippocampus herausschneiden, jener Struktur, in der Eindrücke aus der Außenwelt verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis abgelegt werden. Zum anderen wollten sie eine psychologische Autopsie durchführen: die Angehörigen befragen und auf diese Weise versuchen, die Geschichten der Toten zu recherchieren, um zu verstehen, was sie in den Tod getrieben hat. Das Ansinnen war mehr als delikat, denn Meaney und Szyf ging es um einen Verdacht: Menschen, die als Kind vernachlässigt oder missbraucht werden, tragen biologische Spuren in den Nervenzellen davon, die sie anfällig machen für Depressionen und Selbstmord.
    Ein Dutzend der Familien willigte ein.
    Die Idee, dass Vernachlässigung die Gene im Gehirn verändert, ist Michael Meaney gekommen, als er das Verhalten von Laborratten studierte. Ähnlich wie Menschen pflegen die Nagetiere durchaus unterschiedliche Erziehungsstile. Manche Mütter umhegen ihre Babys besonders liebevoll und lecken ihnen ausgiebig das Fell, was dem Streicheln und Kuscheln beim Menschen entspricht. Wenn die weiblichen dieser Kuschel-Rattenkinder heranwachsen und selber Nachwuchs haben, sind sie ihrerseits besonders fürsorglich und lecken ihre Babys ausgiebig.
    In manchen Ratten-Familien dagegen geht es ohne Liebe zu: Die Mütter lecken ihre Babys kaum. Wenn sich die weiblichen Kinder aus dem Wurf später fortpflanzen, werden sie ihrerseits zu lieblosen Müttern, die ihre Kinder nicht lecken.
    Das Verhalten der Mutter nimmt auch Einfluss darauf, wie gut die Kinder später im Leben mit Stress fertig werden. Rattenbabys, die in den ersten zehn Lebenstagen von der Mutter ausgiebig geleckt und gepflegt wurden, sind später im Leben entspannt und gelassen. Wenn man sie beispielsweise zwanzig Minuten lang in ein schmales Plastikröhrchen steckt, dann schütten sie kaum Stresshormone aus. Diese Stressfestigkeit geben die weiblichen Kuschel-Ratten an ihre Kinder weiter.
    Ganz anders entwickeln sich die Kinder liebloser Mütter. Sie sind ängstliche Erwachsene, die sich in der stillsten Ecke des Käfigs verkriechen. Steckt man sie in die enge Röhre, schütten sie viel mehr Stresshormone aus als die Kuschel-Ratten. Und wenn sich die weiblichen Tiere fortpflanzen, geben sie das Erbe weiter: Ihre Sprösslinge können Stress ebenfalls nicht ertragen.
    Die Verhaltensunterschiede sind groß und werden in den jeweiligen Sippen der Nagetiere weitergegeben. Aus diesem Grund haben Forscher sie zunächst auf biologische Unterschiede zurückgeführt. Um die betreffenden Gene für die jeweiligen Erziehungsstile zu finden, überlegten sich Michael Meaney und seine Kollegin Darlene Francis Adoptionsexperimente. [15] Sie nahmen ein, zwei Babys aus dem Wurf einer lieblosen Mutter und gaben sie in den Wurf einer liebevollen Mama: Sowohl weibliche wie auch männliche Adoptivbabys wuchsen in der neuen Familie zu Erwachsenen heran, die genauso entspannt auf Stress reagierten wie ihre Geschwister, die genetisch von der liebevollen Mutter stammten. Auch wurden leibliche Töchter kaltherziger Mütter ihrerseits zu liebevollen Müttern, sofern sie von einer kuscheligen Mama adoptiert worden waren.
    Die gute mütterliche Fürsorge und Stressfestigkeit werden also gar nicht von Genen weitergegeben. Nur, welche Art der Übertragung ist dann am Werk?
    Michael Meaney hätte eigentlich jederzeit mit Moshe Szyf über die geheimnisvolle Frage reden können, da beide an derselben Universität forschten. Allerdings arbeiteten sie in verschiedenen Instituten und liefen sich jahrelang nicht über den Weg. Erst im fernen Madrid kamen die beiden Gelehrten aus Montreal ins Gespräch, als sie zufällig dieselbe Konferenz besuchten. Einen besseren Zuhörer als Szyf hätte Meaney sich kaum aussuchen können. Von Haus aus Pharmakologe, suchte Szyf damals nach neuartigen Substanzen zur Behandlung von Krebs. Und dabei war er auf ein merkwürdiges Phänomen gestoßen: In bestimmten Fällen bricht Krebs aus, weil die Steuerung der Gene verändert ist.
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    Szyf war ein biochemisches Detail aufgefallen, dem er größte Bedeutung beimaß. Manche
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