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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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später noch deutlich zu erkennen war: In Nervenzellen des Hypothalamus war jenes Gen methyliert, das den Gehalt des körpereigenen Hormons Vasopressin kontrolliert. Vasopressin ist ebenfalls für die Stressantwort wichtig sowie für das soziale Verhalten. Aufgrund der Methylierung haben die traumatisierten Mäuse jedoch derart viel Vasopressin im Gehirn, dass sie sich nicht mehr normal verhalten können.
    »Unsere Studie dokumentiert, wie sich Umwelteinflüsse über epigenetische Mechanismen auf der molekularen Ebene unseres Genoms niederschlagen. Früh erlittene schwere Belastung kann die Entwicklung krankmachender Prozesse einleiten, die sich später in Angsterkrankungen und Depression manifestieren«, sagt Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. »Das Verständnis dieser epigenetischen Kodierung wird zum zukünftigen Schlüssel neuer Behandlungsstrategien.«
    Doch die vorangestellten Erkenntnisse stammen von Ratten und Mäusen – leiden Menschen in ähnlicher Weise unter belastenden Erfahrungen? Diese Frage war es, die Meaney und Szyf die Gehirne der Selbstmörder untersuchen ließ. Die Forscher kamen an die Daten von zwölf Männern aus der Provinz Quebec, die in einem durchschnittlichen Alter von 34  Jahren ihrem Leben ein gewaltsames Ende gesetzt hatten. Sie alle waren als Kinder misshandelt oder missbraucht worden.
    Pathologen entnahmen den Hippocampus aus den Gehirnen, zerschnitten das nur wenige Zentimeter lange Areal, steckten die weißlichen Stücke in durchsichtige Plastikgefäße und kühlten diese auf minus 80  Grad Celsius. Ebenso verfuhren die Wissenschaftler mit den Gehirnen von zwölf Unfallopfern, die sie zur Kontrolle untersuchten. Diese Männer hatten eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verlebt und waren im durchschnittlichen Alter von 36  Jahren verunglückt.
    Die anschließenden Analysen bestätigten die Vermutung von Meaney und Szyf: Im Vergleich zu den Unfallopfern waren die Gene in Hirnzellen der Selbstmörder auffällig verändert. Das Gen für den Stresshormon-Rezeptor war verstärkt methyliert und somit ausgeschaltet. Die Rückkoppelung, um die Stressantwort nach Belastungssituationen auf ein verträgliches Maß zu senken, war gestört.
    »Die Erlebnisse in früher Kindheit markieren das Gehirn«, sagt Szyf. »Diese Markierung bleibt bestehen und kann irgendwann etwas Krankhaftes bewirken. In den von uns untersuchten Fällen ist es der Selbstmord.«
    Die von Szyf und Meaney gewonnenen Erkenntnisse gehen über die Frage des Missbrauchs hinaus. Sie lassen das gesamte Wechselspiel von Umwelt, Genen und Verhalten in einem neuen Licht erscheinen. Gefühle und Gedanken, Erfahrungen und Erlebnisse, zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Faktoren wirken auf unsere Gene und können deren Steuerung verändern – dahinter verbirgt sich eine der bedeutendsten Entdeckungen der Biologie: Die Epigenetik stellt das seit langem gesuchte Scharnier dar, über das die Umwelt auf unsere Erbanlagen wirkt.
    Jahrhundertelang haben Naturforscher und Philosophen gestritten, was den Menschen stärker prägt: seine biologische Natur – oder die äußeren Einflüsse? Diese Frage ist nun entschieden. Gene und Umwelt stehen sich gar nicht unvereinbar gegenüber. Es gibt gar kein Duell. Das Dogma, die Gene kontrollierten die Biologie, ist falsch. Die Umwelt und die Gene bedingen einander und wirken stets im Zusammenspiel. Äußere Einflüsse drücken dem Erbgut ihren Stempel auf. Das ändert alles.
    Die epigenetische Prägung wird von den Zellen auf die Tochterzellen weitergegeben – unser Körper hat ein Gedächtnis. Erfahrungen und der Lebensstil hinterlassen Spuren im Zellkern – die Menschen schreiben ihr Leben lang an ihren molekularen Memoiren. Gleichwohl lassen sich Episoden löschen, verändern, umschreiben und korrigieren. Die epigenetische Prägung muss nicht für den Rest des Lebens gelten, sondern wir können sie ändern. Sowohl die Methylierung als auch die Acetylierung sind umkehrbare chemische Reaktionen.
    Die Adoptionsstudien mit den Ratten, die jeweils von einer hartherzigen leiblichen Mutter zu einer liebevollen Adoptivmutter kamen, deuten es an: Die guten Einflüsse aus der neuen Umgebung können Prägungen aus der alten Umwelt gleichsam überschreiben und ungeschehen machen.
    Eine ähnliche Umkehrung haben die Forscher mit einem pharmakologischen Wirkstoff erzielen können, und zwar mit Trichostatin A. Diese Substanz führt zu einer Acetylierung von
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