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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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Histonen, was wiederum eine verringerte Methylierung bewirkt: Gene können besser abgelesen werden. Zumindest im Experiment hat Trichostatin A wie eine Medizin gegen traumatische Erlebnisse der Kindheit gewirkt. Die Forscher ließen Ratten bei lieblosen Müttern aufwachsen, so dass sie im Erwachsenenalter ängstlich waren und anfällig für Stress. Einem Teil dieser verstörten Nager verabreichten Moshe Szyf und seine Kollegen das Trichostatin A.
    Alle Ratten mussten anschließend einen »Cocktailparty-Test« absolvieren, erzählt Szyf. Die Ratten wurden in eine Kiste gelassen: Die Tiere, die kein Trichostatin A bekommen hatten, drückten sich an den Seiten herum. Anders benahmen sich die Ratten, die mit der Substanz behandelt worden waren. Sie hielten sich in der Mitte der Box auf und waren als Partygäste genauso entspannt und gesellig wie Kuschel-Ratten von liebevollen Müttern.
    »Dieser Befund belegt eindrucksvoll die Umkehrbarkeit der frühkindlich bewirkten Verhaltensweisen durch pharmakologische Modulation des Epigenoms im Erwachsenenalter« – so beschreibt es Szyf in einer Fachzeitschrift. [18] Wenn er die Ergebnisse auf Kongressen vorträgt, drückt er sie viel emotionaler aus: Nach einer verkorksten Kindheit sei »nichts für immer besiegelt«, ruft er fast beschwörend und fügt hinzu: »Da ist Hoffnung!«
    Erfahrung wird vererbt
    Die Gene sind wunderbar wandelbar – diese Erkenntnis der Epigenetiker ist revolutionär. Lange lautete ein Lehrsatz der Biologie, nur Mutationen im genetischen Code könnten neue Eigenschaften hervorbringen. Diese zufälligen Mutationen führen dem britischen Naturforscher Charles Darwin ( 1809 – 1882 ) zufolge zu unterschiedlichen Merkmalen und biologischen Arten. Nun hat sich gezeigt: Neben dieser »harten« Vererbung gibt es noch eine »weiche« Vererbung – erworbene Eigenschaften können weitergegeben werden. Der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck ( 1744 – 1829 ) ging davon aus, der erworbene lange Hals der Giraffe entstehe, weil sich das Tier nach den Blättern auf den Bäumen streckt. Den dabei erworbenen langen Hals vererbe die Giraffe dann an ihre Kinder. Dieser Lamarckismus findet so zwischen den Generationen zwar nicht statt, der lange Hals wird nicht vererbt.
    Anders sieht es jedoch aus, wenn man die Körperzellen betrachtet. Tatsächlich werden sie durch kulturelle Einflüsse und Erfahrungen epigenetisch verändert und geben diese Prägungen, wenn sie sich teilen und vermehren, an die Tochterzellen weiter. Die Zellen in unserem Körper sind schlau. Sie lernen aus Erfahrung.
    Moshe Szyfs führende Rolle, das alte Dogma zu überwinden, ist kein Zufall. Der Mann, dessen Vorfahren aus Deutschland stammen, ist ein in der Wolle gefärbter Pharmakologe. Zugleich ist er ein tiefgläubiger Jude, der jeden Morgen betet und im Labor die Kippa trägt. Schon zu Beginn seiner Studien wollte er sich nicht in eine Schublade stecken lassen, sondern hat einen Brückenschlag zwischen den Kulturen angestrebt. Zunächst hat Szyf Philosophie studiert, dann nahm er die Genetik hinzu. »Die Geistes- und Naturwissenschaften sind vollständig getrennt, beinahe so, als ob Geist und Körper sich nichts zu sagen hätten«, sagt Szyf. »Meine Arbeit verbindet die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften, weil sie offenbart, wie die nichtphysische Umwelt unsere Gene beeinflusst.« Es ist eine neue, eine revolutionäre Sichtweise, allemal für einen der führenden Genetiker. Szyf sagt: »Menschen kann man nicht auf eine einzige Zelle reduzieren, und wir können Menschen nicht von ihrer Umwelt trennen.«
    Gene und Umwelt unterhalten sich
    Doch genau diesen Irrtum begehen jene, die Gene als allmächtige Befehlshaber verstehen. Denn das Erbgut ist formbar und führt einen ständigen Dialog mit der Umwelt. Seine epigenetischen Markierungen durchleben einen beständigen Wandel. Das Entziffern des Erbguts kann diese Wandelbarkeit gar nicht erfassen, weil es nur eine Momentaufnahme liefert; einen Schnappschuss, der zwar den genetischen Code offenbart, jedoch nicht verrät, wie dieser gestern abgelesen wurde und morgen abgelesen werden wird, inwiefern die Gene überhaupt aktiv waren, sind und sein werden.
    Das Erbgut besteht eigentlich auch nicht nur aus vier Bausteinen, sondern aus deren fünf. Neben Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin gehört ein fünfter Baustein dazu: das methylierte Cytosin. Doch diesen Baustein hatten die Forscher gar nicht erfasst, als
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