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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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Männern jeweils »erhebliche Unterschiede gefunden, die auf der genetischen Variation beruhen«, sagt sie über ihre Ergebnisse, die sie im Wissenschaftsjournal
Proceedings of the National Academy of Sciences
veröffentlichen konnte. Laut der Studie sind Menschen mit den Varianten AA und AG von Natur aus kaltherzig. Wer dagegen mit einer GG -Variante gesegnet ist, der kann die Gefühlsregungen der Mitmenschen viel besser erspüren.
    Rodrigues ließ ihr eigenes Blut ebenfalls untersuchen, und vielleicht hätte sie diesen Selbstversuch bleibenlassen sollen – sie selbst gehört nämlich in die Kategorie der Kaltherzigen. Es lässt nun tief blicken, dass die Genforscherin dieses wenig schmeichelhafte Ergebnis für sich nicht gelten lassen will. In einer wirren Pressemitteilung streicht sie einerseits die Bedeutung ihrer Ergebnisse für andere Menschen heraus und distanziert sich andererseits von ihrem persönlichen Befund. Sie trage zwar keinen GG -Rezeptor, sagt Rodrigues, aber: »Ich denke schon, dass ich ein sehr fürsorglicher Mensch bin, der viel Einfühlungsvermögen für andere besitzt.« [13] Die Aussage ist bemerkenswert. Nicht nur, weil die Wissenschaftlerin ihre eigene Forschung konterkariert, sondern auch weil sie preisgibt, was sie denkt: Gene sind kein Schicksal.
    Molekularbiologen und Genforscher stellen es nach außen hin gern anders dar und verstricken sich in eine aberwitzige Suche nach den biologischen Wurzeln aller nur erdenklichen Leiden und Verhaltensweisen. Die einseitige Ausrichtung spiegelt sich auch in der Forschungspolitik wider. Wissenschaftler, die die »harten« genetischen Ursachen von Gewalt erforschen wollen, erhalten viel leichter und deutlich mehr Fördergelder als Kollegen, die eher die »weichen« Umwelteinflüsse erforschen möchten. Schon vor einiger Zeit haben die Autoren Ruth Hubbard und Elijah Wald geschrieben: »Es ist in Mode gekommen, nach genetischen Erklärungen für Gesundheit und Krankheit zu schauen.« Der Glaube, alles sei durch die Biologie vorbestimmt, der genetische Determinismus, macht sich in der Folge auch im Volk breit. Hubbard und Wald konstatieren: »Obwohl viele dieser Gene wie Trugbilder verschwinden, wenn man versucht, sie näher zu betrachten, ist eine Verwirrung um die Behauptungen und Gegenbehauptungen zwangsläufig. Es gibt so viele Geschichten, dass die Leute den Eindruck gewinnen: Die Gene kontrollieren alles.« [14]
    Alles unter genetischer Kontrolle? Das muss nicht einmal stimmen, wenn ein Mensch an einer Erbkrankheit leidet. Stellen wir uns zwei fünf Jahre alte Kinder vor, deren Gen für das Enzym Phenylalaninhydroxylase mutiert ist und nicht mehr normal arbeitet. Aus diesem Grund können die Kinder die Aminosäure Phenylalanin nicht mehr chemisch umwandeln und aus dem Körper entfernen. Phenylalanin ist zwar ein lebenswichtiger Stoff, jedoch nur in kleinen Mengen. In dauerhaft erhöhten Dosen wirkt er wie ein Gift, vor allem im heranwachsenden Körper.
    Nehmen wir nun an, bei einem der Fünfjährigen wurde das angeborene Leiden nicht entdeckt. Das Kind hat einen verkleinerten Kopf, leidet unter schweren geistigen Ausfällen und zeigt psychotisches Verhalten. Bei dem anderen Kind dagegen hat man die Mutation durch das Neugeborenenscreening frühzeitig gefunden und dem Knaben fortan spezielle Nahrung gegeben, die nur ganz wenig Phenylalanin enthält: Dieses Kind gedeiht im normalen Bereich.
    Es sind mithin soziale Faktoren, die über das Schicksal der erbkranken Jungen entscheiden: Kümmern sich Ärzte darum, dass das Neugeborenenscreening durchgeführt wird? Sind die Eltern in der Lage, das Kind konsequent mit Lebensmitteln zu ernähren, die besonders wenig Phenylalanin enthalten?
    Aus einer identischen genetischen Ausstattung können Menschen mit völlig unterschiedlichen Erscheinungsbildern entstehen. Was in den Genen geschrieben steht, diese Abfolge aus den DNA -Bausteinen Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin, bestimmt unser Leben in weit geringerem Maße, als wir annehmen.
    Es ist nicht nur wichtig, was in den Genen geschrieben steht. Es kommt ganz entscheidend darauf an, wie die Gene abgelesen werden – und das können wir beeinflussen.

Kapitel  2 Schlaue Zellen – wie Erfahrungen unsere Gene prägen
    Im kanadischen Montreal gibt es einen Ort, an dem Mediziner die Gehirne von Menschen aufbewahren, die Suizid verübt haben: die in einem Krankenhaus untergebrachte Quebec Suicide Brain Bank. Vor einiger Zeit haben sich hier der
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