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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer
Autoren: T Korber
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geplant.«
    Viktor hob die Brauen. »Sicher«, sagte er dann. »Zehn vor. Kein Problem.«
    »Ich selber muss noch die Anzeigentexte an die Zeitung durchgeben. Gepäck hast du ja wohl weiter keines. Kommst du alleine zurecht?«
    »Seit zehn Jahren, Onkel.«

3
    Die abgestandene Luft einer verlassenen Wohnung schlug Viktor entgegen. Er versuchte sich klarzumachen, dass seine Eltern nicht vor zehn Jahren, sondern erst vor wenigen Monaten aufgehört hatten, diese Räume zu bewohnen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte sich das Leben, das sie hier ohne ihn geführt hatten, nicht vorstellen. Hatten sie tatsächlich einfach so weitermachen können, gefrühstückt, Zeitung gelesen, die Wäsche gefaltet, sich die Zähne geputzt, neue Menschen kennengelernt, neue Gewohnheiten entwickelt und ihn schließlich vergessen? So wie sie Hannah vergessen hatten? Wie sie langsam grauer und älter geworden waren, älter als die paarundvierzig Jahre, die sie in seiner Erinnerung für alle Zeit haben würden. Nein, das war unvorstellbar.
    Für ihn waren diese Räume ein Museum. Ein Museum, in dem er jeden Zentimeter kannte. Kein Grund, sagte er sich, für Sentimentalität. Weder die Familienbilder im Flur noch die vertrauten Buchrücken im Wohnzimmerregal würden ihn erweichen. Seine Knie würden nicht zittern, nur weil im Badezimmer noch die gebrauchten Zahnbürsten standen, im Wäschekorb die getragenen Socken lagen und in der Küche der Abendbrottisch tatsächlich immer noch nicht völlig abgedeckt war. Viktor betrachtete den angetrockneten Teerest in der Tasse mit dem Kleeblattmuster, die er seinem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Selbst ausgesucht und vom eigenen Taschengeld bezahlt. Saustolz war er da mal drauf gewesen. Als ihm das alles hier noch etwas bedeutet hatte. Viktor verzog abschätzig den Mund, dann knallte er die Tasse so heftig in die Spüle, dass sie zersprang. Er konnte förmlich vor sich sehen, wie sie unten die Köpfe hoben. Auch egal.
    Mit langen Schritten ging er weiter in das Schlafzimmer seiner Eltern, was ihn einige Überwindung kostete. Hier war der Eigengeruch am strengsten; man brauchte schon fast eine Gasmaske, um einzudringen. In einer Ecke stand der Schreibtisch seines Vaters, ein aufklappbarer Sekretär, der stets verschlossen gewesen war. Viktor hatte eine Vermutung, wo er den Schlüssel finden könnte. Als er allerdings die Klappe geöffnet hatte und die penible Ordnung seines Vaters vor sich sah, verzichtete er darauf, die Fächer zu durchwühlen. Nicht heute, beschloss er, nicht jetzt. Nicht alles auf einmal. Er hatte nun, da er zurückgekehrt war, alle Zeit der Welt für sein Vorhaben.
    Viktor nahm seinen Rucksack und ging durch den Flur zu seinem alten Kinderzimmer. Dabei musste er an ihrer Tür vorbei. Sie zu betrachten brachte er einfach noch nicht übers Herz. Er atmete tief ein und schloss die Augen. Aber noch auf den Innenseiten seiner Lider erschien das Abbild der dunkelbraunen Holztür voller halb abgekratzter Aufkleber, kleine rote Herzen mit den Namen von Bravo-Helden, die einst verehrt und dann verschmäht worden waren, einer handgeschriebenen Ankündigung »Privat!« und der mit Glitzer verzierte Schriftzug, der ihren Namen schrie: »Hannah«. Sein Brustkorb schmerzte, er atmete aus, wieder ein, wieder aus. Hannah, ich bin wieder zurück. Es hat eine Weile gedauert. Es tut mir so leid, Hannah. Unendlich leid. Hast du auf mich gewartet? Eine Ewigkeit später war er an der Tür seiner Schwester vorbei.
    Die Tür zum nächsten Zimmer war unverfänglich; dort hatte er seine unspektakuläre Jugend verbracht. Er drückte die Klinke hinunter, und im nächsten Moment wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Da war sie ja, die Jugendzimmerschrankwand aus Resopal, sein Bett, das ihm so schmal vorkam, wie ein zu klein gewordener Schuh, die Urkunden von den Sportfesten an der Wand, ein paar Schulbücher, verstaubte Action-Videos – gab es überhaupt noch Videorekorder? –, ein paar Fußball-Pokale, das Pokémon-Sammelalbum. Neben Madonna hing, sein ganzer Stolz damals, ein Plakat, das für die Legalisierung von Marihuana warb, der Beweis für sein zähes Rebellentum. Der Raum war schmal und dunkel. War das wirklich einmal seine Welt gewesen?
    Viktor hievte den Rucksack auf den Schreibtischstuhl, das einzig teure Möbelstück, das seine Eltern gekauft hatten, weil die richtige Sitzhaltung bei der Arbeit ja so wichtig war. Auf seine Noten hatte sich das allerdings nie sonderlich positiv
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