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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer
Autoren: T Korber
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sagte sie fragend. »Mein Gott, Junge …«
    »Hallo Tante Hedwig.« Er küsste sie auf die Wange und ließ es zu, dass sie mit den Fingern durch seine Haare fuhr.
    »Herrjeh, so lang«, murmelte sie.
    Viktor strich seine Locken zurück. Er hatte sich den Pferdeschwanz beim Flughafenfriseur abschneiden lassen, um etwas seriöser zu wirken, aber jetzt sprangen stattdessen störrische, rostfarbene Spiralen um seine Stirn und ließen ihn so jungenhaft aussehen wie eh und je. »In meinem Alter, Tante Hedwig«, sagte er, »muss ein Mann froh sein über jedes Haar, das er besitzt.«
    Ohne auf eine Einladung zu warten, ging er an ihr vorbei in den Flur. Zwei Schritte hinter der Tür blieb er stehen – dieser Geruch nach lauem Blumenwasser, nach Lilien und Kerzen, wie in einer Kirche. Ihm fiel wieder ein, warum er die letzten zehn Jahre kein Gotteshaus betreten hatte. Viktor starrte auf das Stillleben, das seit jeher die Besucher des Instituts Anders im Flur begrüßte. Brennende Kerzen umrahmten ein Gesteck aus weißen Blüten, davor lag aufgeschlagen ein Kondolenzbuch. Unwillkürlich zog er es heran und überflog die Seiten. Es ging nicht um seine Eltern, wie auch. Seit er die Nachricht von ihrem Tod erhalten hatte, waren Monate vergangen. Und noch einmal Wochen, bis er sich zu dem wichtigen Schritt hatte entschließen können, sein Erbe anzutreten. Sicher, es ging um Geld, gar nicht mal um wenig Geld, wenn man seine finanzielle Lage bedachte. Dennoch hätte kein Vermögen der Welt ihn hierher zurückgebracht, dachte er und schloss das Buch mit einem Knall. Doch da gab es eben noch etwas, dem er unbedingt auf den Grund gehen musste: Hannahs Tod, der seine sorgenfreie Kindheit mit einem Schlag beendet hatte. Ihm war immer bewusst gewesen, dass er eines Tages zurückkehren würde, ihretwegen.
    Viktor zupfte an den Blumen. Er versuchte, nicht auf die Türen zu starren; die rechte war verboten gewesen und führte in das Büro hinüber, die linke, noch verbotener, in den Keller. In den Keller.
    »Dein Vater hatte auch bis zuletzt so wunderbar kräftiges Haar«, unterbrach Tante Hedwig seine Gedanken. »Komm doch ins Wohnzimmer. Ich habe uns einen Kaffee gekocht.« Viktor pflückte eine der Blüten und steckte sie ihr hinter das Schürzenband. Tante Hedwig errötete leicht. »Ach Viktor, du warst schon immer ein Verrückter.«
    Sie setzten sich an den gedeckten Tisch, mit Blick auf den düsteren Garten voller großer Kiefern. Seine Tante hatte das gute Geschirr gewählt, Leinenservietten, silberne Zuckerzange – das volle Programm.
    »Wolfgang ist auf einer Beerdigung. Wir wussten ja nicht, was du, ich meine, wann du …«
    Viktor setzte sich auf die Kante seines Stuhls und blickte auf die massive Schrankwand aus Eichenholz mit ihren vollgestopften Vitrinen. Er dachte an den Teeraum seines Sensei, der so schlicht und luftig war. Vor den offenen Reispapiertüren hatte der Hibiskus geblüht.
    »Warum bist du eigentlich …«
    »Schon gut, Tante. Ich hatte nicht erwartet, dass ihr mit einem gebratenen Lamm am Flughafen aufkreuzen würdet.«
    Seine Tante blinzelte. »Milch und Zucker?«, fragte sie schließlich.
    Sie rührten in ihren Tassen und schwiegen erneut. Viktor war das nur recht. Er hatte es gelernt zu schweigen. Und auch dem Schweigen standzuhalten. Er konnte warten. Und seine Antworten würde er bekommen.
    »Was hast du denn so gemacht die letzte Zeit?«, brachte Hedwig schließlich heraus.
    »Du meinst, die letzten zehn Jahre?«
    »Nimm doch noch ein Baiser.« Da war es wieder, dieses Lächeln.
    »Nun«, begann Viktor und lehnte sich zurück. »Ich, äh …« Verdattert starrte er aus dem Fenster. »War das eine Katze, die da eben vorbeigeflogen ist?«
    »Hat er es schon wieder getan?« Seine Tante sprang auf und lief aus dem Zimmer. Er hörte ihr Schimpfen auf der Treppe leiser werden und im ersten Stock das Schlagen einer Tür. Dann war alles still. Nur die große Standuhr erfüllte das Zimmer mit ihrem Ticken.
    Ja, was hatte er eigentlich so getrieben die letzten Jahre? Nachdem er mit nichts als ein paar Mark, die er seiner Mutter aus dem Geldbeutel geklaut hatte, aus dem Haus geschlichen war? Intensiv wie lange nicht mehr erinnerte er sich an die einsame nächtliche U-Bahn-Fahrt zu seinem besten Freund, und wie verzweifelt er in dem regennassen Garten gestanden und Steinchen an Markus’ Fenster geworfen hatte, bis der endlich aufgewacht war. Wie der Zufall es wollte, sollte Markus am nächsten Morgen einen
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