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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Deutschland schienen sich in Berlin recht wohl zu fühlen und äußerten sich nur knapp über die Verhältnisse in ihrer Heimat. Selbst deutsche Kommunisten, die kurz nach Moskau verschlagen worden waren, ließen sich lang und breit über die dort gehegten Zukunftspläne und über die Begeisterung der Massen aus, erzählten aber nichts über den Verdienst des Durchschnittsbürgers oder darüber, was er aß und trank, wie er wohnte und sich kleidete.
    Wieso Vater uns 1924 in die antiautoritäre und deshalb als modern geltende Berthold-Otto-Schule in Lichterfelde gab, ist mir bis heute unverständlich. Diese Schule, die als Ministaat mit Kanzler, Ministern, Gerichten und Schiedskommissionen erfolgreich Kaiser Wilhelm, Ebert, Hindenburg, Hitler, Adenauer und alle seine Nachfolger überdauert hat, wurde damals von dem kauzigen Professor Berthold Otto geleitet, der mit einem Regenschirm schwimmen ging und (wie ich erst Jahrzehnte später erfuhr) eine Lehre vom «volksorganischen Denken» entwickelt hatte, die im Kern die Einführung eines deutschen Sozialismus unter dem zurückgerufenen Kaiser propagierte. Oberstes Prinzip an der Schule war (wie man heute sagen würde) learning by doing , der Unterrichtsstoff wurde nicht erklärt, sondern musste dem Lehrer beziehungsweise den Mitschülern abgeguckt werden. Nun hatten die beiden Neuzugänge des Jahres 1924 – ein gewisser Gunnar und ich – schon deshalb mit dem Abgucken Schwierigkeiten, weil wir in den bereits seit dem Vorjahr bestehenden Anfängerkursus aufgenommen wurden, in dem eingefuchste Schüler die Flüsse Europas oder Rechenaufgaben mitsamt den Ergebnissen nach der Stoppuhr herunterschnarrten. Einige Monate später fand ich mich mit der betrüblichen Einsicht ab, außergewöhnlich unbegabt zu sein.
    Zu meinem Glück zogen wir 1925 in die gerade erbaute Britzer Hufeisensiedlung, sodass ich in die ebenfalls von einem Reformpädagogen geleitete Rütli-Schule im Arbeiterbezirk Neukölln kam. Mein neuer Lehrer, Herr Lemke, erkannte mein Problem und trichterte mir in zwei Dutzend Nachhilfestunden das Jahrespensum der ersten Klasse mitsamt einer gehörigen Portion Selbstsicherheit ein, und ich fand Anschluss zu meinen – zumeist aus proletarisch-kommunistischem Milieu stammenden – Klassenkameraden.
    Ich erinnere mich an die Wahlagitation vor den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928, bei denen die SPD als Liste 1 , die KPD als Liste 5 antrat. Eifrige Sozialdemokraten hatten Plakate herausgehängt, auf denen stand, schon jedes Kind wisse, dass die Eins «ausgezeichnet» bedeute, die Fünf aber «mangelhaft». Wir Knirpse bildeten unter solchen Aushängen Sprechchöre und schmetterten aus voller Kehle: «In Russland ist es umgekehrt, da ist die Fünfe lobenswert!» Dann liefen wir, so rasch wir konnten, weg, höchst befriedigt darüber, dass wir die «Bonzen» abgekanzelt hatten.
    Innerlich halbwegs gefestigt kam ich zwei Jahre später in die Karl-Marx-Schule, die früher Kaiser-Friedrich-Realgymnasium geheißen hatte, nun aber unter einem sozialdemokratischen Direktor als eine der fortschrittlichsten Schulen Deutschlands galt. Im Gegensatz zur Rütli-Schule, wo die Kommunisten in der Mehrzahl gewesen waren, überwogen hier Töchter und Söhne von SPD-Mitgliedern. Da zu dieser Zeit gerade die Weltwirtschaftskrise im Gange war, die fast jeden zweiten Arbeiter in Deutschland erwerbslos machte, traten die Unterschiede im Lebensstandard deutlicher als bisher hervor. Ich kam, da wir zu Hause keine Not litten, in die seltsame Lage, der staatserhaltenden Elite zugerechnet zu werden, während ich mich doch als erklärten Gegner der Kapitalistenrepublik sah!
    Viele Nachmittage verbrachte ich im rein kommunistischen «Sozialistischen Schülerbund»* und fuhr auch in die von ihm organisierten ländlichen Ferienschulen in diversen Zeltlagern. Dort wurde nicht nur über aktuelle Probleme, über die Kriegsgefahr und die internationale Lage gestritten, sondern es gab auch zünftige Vorlesungen zum dialektischen und historischen Materialismus, der nach allen Richtungen abgeklopft und für gut befunden wurde. Zwischendurch verschlang ich die Schriften von Max Beer, Edwin Hoernle und Frida Rubiner, versuchte mich an Trotzki und Bucharin und griff schließlich sogar zu Engels und Lenin. Nur an den obersten Gott des atheistischen Olymps, an Marx, traute ich mich nicht heran. Für einen stümperhaften Anfänger wie mich ziemte es sich einfach nicht, die Werke des Urvaters anzurühren und
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