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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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– die nach seinem Dafürhalten «verwöhnten Bürgersöhnchen» – zu Klassenkämpfern umerziehen wollte. Pädagogisches Talent ging ihm jedoch völlig ab. So langweilte er uns mit Geschichtchen im Funktionärsjargon, die mir schon damals verschroben erschienen, weil ich spürte, dass sie aus propagandistischen Sprechblasen bestanden.
    Viel lebendiger war es mit unserem Vater, mit dem wir in einer Wohnung lebten, die wir «Dreier-Pension für ledige Herren» nannten. Vater war humorvoll und genusssüchtig, machte aus seiner intellektuellen Überlegenheit über Hans Baumgarten keinen Hehl und bewahrte sich bei uns Söhnen den Ruf eines Kommunisten, der mit beiden Beinen im Leben stand. Er war es, der den Grundstein für unsere Weltanschauung legte.
    Schon von klein auf gingen wir einmal in der Woche zur Kommunistischen Kindergruppe, die in einem düsteren stadteigenen Lokal tagte. Dort brachte uns eine Tante Hedwig, die sicher noch keine 30 war, mir aber steinalt vorkam, Wander- und Kampflieder bei, bastelte mit uns Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke und klebte ausgeschnittene Zeitungsfotos und handgeschriebene Artikel zu Wandzeitungen zusammen. Obwohl ich, noch Vorschulkind, diese Artikel nicht lesen konnte, bestaunte ich die Verfasser derartiger Pamphlete, leisteten sie doch – davon war ich überzeugt – einen Beitrag zum Befreiungskampf der Unterdrückten.
    Mit dem Lande Lenins, in dem – wie wir lernten – der erste Akt der Weltrevolution über die Bühne gegangen war, verbanden wir Jungen grandiose, mitunter groteske Vorstellungen. Felsenfest glaubte ich zum Beispiel, dass alle Popen in die Kommunistische Partei eingetreten seien oder dass Politbüromitglieder (und schwangere Frauen) vorn in der Straßenbahn einsteigen durften.
    Als Lenin starb, hatte ich mich als Sechsjähriger eine Weile damit beschwichtigt, dass sein Bruder K. Lenin (Kalinin) an seine Stelle getreten war und der nicht ganz verständlichen Losung «Lenin ist tot, der Leninismus lebt» einen fassbaren Ausdruck verliehen hatte. Als ich dann nach drei, vier Jahren meines Fehlers gewahr wurde, kannte ich dem Namen nach bereits ein Dutzend Sowjetführer, die sich um die Fortsetzung des Lenin’schen Werkes bemühten. Von Meinungsverschiedenheiten oder gar Richtungskämpfen innerhalb der russischen Führungsequipe hatten wir, die Kinder des kommunistischen Fußvolks im Westen, noch nie etwas gehört, erst recht nichts über die Schikanierung oder Verfolgung von Sowjetgegnern. Feinde des Sowjetstaates, so vermuteten wir, säßen nur im Ausland, im Lande selbst konnte es solche Leute nicht geben.
    Die Nachricht von der Verbannung des Oktoberhelden Leo Trotzki hielten wir für plumpe Verleumdung. Die Amtsenthebung Sinowjews nahmen wir kaum zur Kenntnis. Legendär war in Deutschland der rote Haudegen Budjonny. Ein Zeltlager in Templin war von uns (oder von unseren Oberen?) nach dem Bürgerkriegshelden Woroschilow benannt worden. Von Stalin hatten wir seltsamerweise nie etwas gehört.
    Auch Pressenachrichten über Hungersnöte in Sowjetrussland* hatten wir stets als feindliche Hetze abgetan. Ich wusste zwar, dass es in Russland nach dem Bürgerkrieg verwahrloste Kinder und auch Versorgungsschwierigkeiten gegeben hatte, übertrug aber, wenn ich etwa an «Versorgungsschwierigkeiten» dachte, die deutschen Maßstäbe auf russische Verhältnisse. Dabei stand für mich außer Frage, dass die Russen, allen voran die sowjetischen Jungkommunisten, ununterbrochen Erfolge errangen und alle Schwierigkeiten überwanden. Darüber las man ja in der «Roten Fahne»* sowie in der mitunter leicht exotischen, deshalb aber desto spannenderen sowjetischen Belletristik, die vom Neuen Deutschen Verlag* herausgegeben wurde – in Pantelejews «Schkid, die Republik der Strolche», im «Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew» sowie in den Werken Aleksej Tolstois, Pilnjaks und Scholochows. Gelinde Bauchschmerzen hatte mir allerdings das Buch von Berta Lask «Wie Franz und Grete nach Russland reisten» bereitet. Dort hatte die Autorin kein Hehl daraus gemacht, dass es auch im angehimmelten Sowjetstaat Hunger und Not sowie Menschen gab, die von kommunistischen Ideen unbeeindruckt geblieben waren.
    Mit solcherart Skrupeln hatte ich mich aber nicht lange aufgehalten. Erst später – nämlich in der Sowjetunion – fiel mir auf, dass Leute, die in Russland gelebt hatten, nie so richtig mit der Sprache über den dortigen Alltag herausgekommen waren. Die Sowjetrussen in
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