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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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dort aus zur finnischen Grenzstation. Nun war die sowjetische Grenze nicht mehr weit. Die kleine Lokomotive pfiff und krächzte und blieb lange an kleinen Stationen mit unaussprechlichen Namen stehen.
    In Wyborg stiegen die meisten Passagiere aus. Mein Herz schlug höher, als wir uns im fast leeren Waggon dem sowjetischen Grenzort Beloostrov näherten. Dann quietschten die Bremsen, und der Zug hielt. Wir schauten hinaus, doch auf dem verlassenen Bahnsteig tat sich nichts. Unser einziger Mitreisender, offenbar ein Russe, stieg rasch aus und verschwand. Dass er sich auskannte, begriffen wir erst, als uns ein finnischer Eisenbahner fragte, worauf wir noch warteten. Hier sei Endstation, über die eigentliche Grenze müssten wir zu Fuß gehen.
    Am Erfrischungsstand im finnischen Wartesaal kaufte Hans ein Dutzend Bananen und trank im Stehen einen Kaffee. Er schlug vor, sich noch einmal hinzusetzen, doch Walter und ich drängten, weil wir so schnell wie möglich über den Schlagbaum nach «drüben» gelangen wollten.
    Dann die entscheidenden 20 oder 30 Schritte. Fasziniert starrte ich auf den großen Holzbogen, der den nicht befahrenen Schienenstrang aus der alten in die neue Welt überspannte. Zwar konnte ich die fremdländischen Buchstaben nicht lesen und die Worte nicht verstehen, doch wusste ich, was dort stand: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Mich übermannte ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag. So betrat ich meine neue Welt.
    Die ersten Eindrücke vom roten Russland hat mein Gedächtnis nur verschwommen bewahrt. Offenbar wurde die Wirklichkeit von der inneren Verpflichtung, begeistert zu sein, verschleiert. Hans, Walter und ich betraten ein verwahrlostes Bahnhofsgebäude: überall Dreck, die Regale des kleinen Verkaufsstandes waren leer, von Spinnweben durchzogen.
    Erst nachdem die Abfahrtszeit des Zuges, der uns nach Leningrad bringen sollte, verstrichen war, erschienen die ersten Sowjetbürger: zwei Grenzer und ein Zollbeamter mit betont abweisenden Mienen. Dennoch betrachtete ich die leibhaftigen Repräsentanten des Sowjetstaates mit ungeheurem Respekt, oblag es ihnen doch, die hier in den Wäldern versteckte Grenze zu sichern, vielleicht sogar Provokateure dingfest zu machen. Da konnten sie nicht jeden Ankommenden umarmen. Tatsächlich nahmen sie ihre Pflichten sehr ernst. Der Zöllner öffnete jeden Koffer, nahm Wäschestücke heraus. Verblüffenderweise blieb Hansens schwarzer Diplomatenkoffer ungeöffnet – der Grenzposten schob ihn mit dem Fuß lässig vom Stapel des unkontrollierten zum bereits inspizierten Gepäck. Ich erinnere mich, dass ich begeistert war: Donnerwetter, dachte ich, wie perfekt im Arbeiter- und Bauernstaat alles organisiert ist. Die Grenzer erkannten die kommunistische Kurierpost an geheimen Zeichen.
    Als sich der Zug – mit fast zweistündiger Verspätung – in Bewegung setzte, war unser Waggon leer: bis zur ersten Station, die, wie ich später erfuhr, außerhalb der Sperrzone lag. Dort jedoch war der Bahnsteig schwarz vor Menschen. In unser Abteil drängten zwei mit Kiepen bepackte Frauen und ein kahlgeschorener, dürftig gekleideter Mann mit zwei Kindern. Er lächelte uns an, wir lächelten zurück, doch die Sprachbarriere verhinderte jede weitere Verständigung. Ich glaubte, dass er uns so freundlich begegnete, weil er in uns seine Kampfgenossen gegen den Weltimperialismus erblickte. Heute denke ich, dass er vor allem über unsere Kleidung und unsere Koffer staunte, ganz zu schweigen von den Bananen, die wir ihm und den Kindern anboten. Wir mussten ihnen zeigen, wie sie abzuschälen waren.
    Je näher wir Leningrad kamen, desto voller wurde der Zug. Von den hereindrängenden Menschen sahen wir nicht viel, weil es inzwischen Nacht geworden war und keine Lampe in unserem Abteil funktionierte. Schrille, unverständliche Laute kamen aus der Dunkelheit. Es roch fremdartig.
    Da wir mit großer Verspätung in Leningrad ankamen, machte Hans sich Sorgen, dass er den Verbindungsmann, der ihn in Leningrad abholen sollte, verfehlen könnte. Doch der Genosse war zur Stelle. Der Mann brachte uns in das leicht heruntergekommene (heute wieder tadellos renovierte) Hotel Astoria , das einst das erste Haus am Platze gewesen war. Da Fragen über Begleitpersonen der Kominternkuriere nicht gestellt werden durften, wies man uns dreien ohne weiteres ein Zimmer zu.
    Zum Abendbrot, das ziemlich frugal ausfiel (allerdings,
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