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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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außerhalb Moskaus im «Punkt Zwei»* bei Podlipki wohnten, wo die Fälscherwerkstatt und die Geheimschule der Komintern untergebracht waren, schied für Walter und mich eine Unterbringung in deren Wohnung von vornherein aus. Deshalb wies der Geheimdienstchef an, uns Jungs vorerst in einem Gemeinschaftszimmer unter dem Dach des damals noch nicht aufgestockten Hotels Lux in der Twerskaja (seit 1932 offiziell uliza Gorkowo) unterzubringen. Wir aßen dort in der Kantine und begegneten häufig der Politprominenz. Da wir anfangs mit unseren Abenden nichts anzufangen wussten, ergab es sich fast von selbst, dass wir oft bei Hilde Tal saßen, die mit ihrem Lebensgefährten Jule Gebhardt und ihrer Tochter Sina ebenfalls im Lux wohnte (zweite Etage, Zimmer 14). Jule, eigentlich Julius Gebhardt, hatte in Deutschland an der Seite von Hugo Eberlein im Exekutivkomitee der Komintern gearbeitet und war jetzt im «Verlag ausländischer Arbeiter»* beschäftigt, dessen Direktor er sogar kurzzeitig werden sollte. Komisch, aber wenn man sein späteres Schicksal bedenkt auch tragisch, war Jules Reinlichkeitsbedürfnis, das dazu führte, dass er in seinem Büro eine eigene Klobrille aufbewahrte, die er aus Protest gegen die verdreckten Toiletten unter den Arm zu klemmen pflegte, wenn er durch den Korridor zum stillen Örtchen schritt.
    Trotz der lästigen Passierscheinformalitäten besuchten wir Hilde Tal auch nach unserem baldigen Auszug aus dem Lux noch häufig. Bei den Gesprächen, an denen zumeist noch einige Zimmernachbarn teilnahmen, gab es fast ausschließlich ein Thema: die tschistka , die damals in Gang befindliche Parteireinigung. Obwohl mehr Russisch als Deutsch gesprochen wurde, kam ich bald dahinter, dass da eine für mich bislang unvorstellbare Aktion über die Bühne ging. Seit Wochen tagten Parteigruppenversammlungen oft bis in die tiefe Nacht hinein, um alle Parteimitglieder «durchzuarbeiten». Dies wurde so gründlich getan, dass man sich an einem Abend meist nur mit einer Person beschäftigte, ja dass es manchmal zweier Zusammenkünfte bedurfte, um einen Genossen oder eine Genossin zu «reinigen». Nur wer – vorbehaltlich der Zustimmung der nächsthöheren Parteiorganisation – als «intakt» befunden wurde, bekam sein neues Parteibuch. Mich verblüffte vor allem, mit welcher Vehemenz Fehler und Schwächen geradezu gesucht wurden; dass man von der Existenz solcher Schwächen in den Reihen der siegreichen Partei dermaßen überzeugt war. Am wenigsten begriff ich, wieso der allergrößte Wert auf Selbstanklage und Selbstkasteiung gelegt wurde. Nur wer sich Asche aufs Haupt streute, nur wer – sowohl in ideologischen als auch in privaten Fragen – tiefschürfend genug und rechtzeitig Selbstkritik übte, hatte überhaupt die Chance zu bestehen. Von einigen, die zu spät oder nicht gründlich genug Selbstkritik übten, hörte ich, dass sie Selbstmord begangen hatten. Mitleid wurde jedoch nie geäußert. Selbstmord galt als Schuldeingeständnis; wer sich das Leben nahm, wurde verdächtigt, der «Opposition» angehört zu haben.
    «Opposition» war, wie ich bald herausfand, das schlimmste aller Worte. Leute, die auch nur einer Verbindung zu sogenannten Oppositionellen verdächtigt wurden, überstanden die tschistka nicht, sie wurden aus der Partei «hinausgereinigt» und verloren, weil ein Parteiloser nicht in der Komintern arbeiten konnte, ihren Arbeitsplatz. Als ich mein Unbehagen über diese Vorgänge einmal vorsichtig Hilde gegenüber zur Sprache brachte, reagierte sie ungewöhnlich scharf und klärte mich darüber auf, dass der Genosse Stalin erst kürzlich den wütenden Widerstand des Klassenfeindes (von dem ich glaubte, dass er längst liquidiert worden sei) konstatiert und zu seiner vollständigen Überwindung aufgerufen habe. Zu meinem Schrecken erwähnte sie, dass sogar namhafte Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (ZK*) wegen ihrer Verbindung zu oppositionellen Gruppen verwarnt worden waren. Nach dieser Abfuhr getraute ich mich nicht mehr, ältere Genossen in heiklen Angelegenheiten zu befragen – lieber fraß ich die unverständlichen Dinge in mich hinein.
    Ich hatte meine erste Sowjetlektion erhalten. Verkraftet hatte ich sie noch nicht.

WAS HATTE ICH ERWARTET?
    1914 war mein Vater, Erwin Ruge, ein junger, national eingestellter Studienrat, als Reserveleutnant in den Ersten Weltkrieg gezogen.
    Nachdem 1915 mein Bruder Walter geboren worden war, erlitt Vater im Dezember 1916 eine
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